Gehwegschäden
gehandelt, einen anderen Beruf ergriffen, ernsthafter studiert, gearbeitet, sicherer, solider gedacht, gelebt, dann tat sich ein Abgrund auf. Wann war der Zeitpunkt, an dem er diese oder eine andere Weiche hätte anders stellen müssen? War dieser Zeitpunkt immer wieder da gewesen? Also jeden Tag? Und wenn er diese oder eine andere Entscheidung anders gefällt hätte, wohin hätte ihn dieser oder ein anderer Weg geführt, und welche neuen Weichen hätte er auf gar keinen Fall falsch oder anders stellen dürfen? Welches war der Zeitpunkt der ersten Weiche? Sein erster Rausch, als er im Alter von acht Jahren in einem Reitstall im Osthessischen eine halbvolle Flasche Schnaps auf dem Hackklotz entdeckte? Sie hatte dem Schmied gehört, er hatte sie vergessen, und sie stand herrenlos auf dem Hackklotz in der Scheune, wo der Schmied ein Pferd beschlagen hatte, Thomas Frantz und zwei Freunde, ein Mädchen und ein Junge, hatten ihn beobachtet und später beim Spielen in der Scheune die Flasche entdeckt, aber nur Frantz trank davon, er spülte das scharfe Zeug herunter in einem Zug, weil sich die anderen nicht getraut hatten, weil sie nur daran gerochen hatten. Was wäre gewesen, wenn er wie die anderen nicht davon getrunken hätte? Oder war der Zeitpunkt der falschen Entscheidung erst viel später gewesen, als er erst mal Philosophie, also erst mal nichts studierte, anstatt Jura oder Psychologie zu belegen? Scheiße. Viel früher. Viel, viel früher. Vielleicht schon in der fünften Klasse, der vierten, dritten. Als sich Thomas Frantz dafür entschied, Fußball zu spielen an den Nachmittagen und zu raufen mit den Nachbarskindern, die ihn hänselten, weil er nicht aus ihrem Dorf im Osthessischen stammte und keine wirklichen Eltern hatte, anstatt zu Hause zu bleiben und die Schatzinsel und Robinson Crusoe und den Grafen von Monte Christo zu lesen. Vielleicht hätte er sich in der Grundschule mehr zusammengerissen und bereits an den Numerus clausus gedacht und wäre ein brauchbarer Medizinstudent geworden?
Noch früher?
Der Abgrund verschlingt ihn.
Es dauert manchmal Tage, bis er sich vom Reichtum erholt hat. Diese Reichtumskrankheit. Bis er sich wieder eingerichtet hat, in seiner Bude. Sollte er nicht lieber allein oder unter seinesgleichen bleiben? Lief das Leben nicht auf ganz natürliche Trennungen hinaus? War die Segregation, so hässlich das Wort ist, nicht eine ganz vernünftige, vollkommen normale Überlebensstrategie? Hatte nicht die Natur selbst die Segregation eingerichtet – zum Schutze der Spezies? Der Wohlhabenden wie der armen Schweine? Warum sich ihrer erwehren? Fühlten sich nicht alle wohler, sicherer, wenn sie ab einem gewissen Alter unter sich blieben? Wenn sie sich einmal als Kinder beschnüffelt hatten, aber später verstanden, dass die Gerüche sie trennten? Dann war doch das Auseinanderdriften der Gesellschaft eine gesunde Sache. Warum lamentierten sie, die Soziologen und Theoretiker, über Räume der Sieger und Räume der Verlierer?
Thomas Frantz erinnerte sich an eine Geschichte, die Shandor einmal erzählt hatte. Frantz war an diesem Abend zusammen mit anderen alten Internatsfreunden in der Villa Shandor in Zehlendorf zum Kartenspielen eingeladen gewesen. Shandor war einer der wenigen Internatsfreunde, die wirklich reich waren, wenngleich Shandor den Begriff wohlhabend vorzog. Shandor war als Sohn eines in München ansässigen Fabrikanten aufgewachsen und hatte bereits ab der ersten Klasse das Eliteinternat Salem besucht, wo er sich früh an elegante Garderoben gewöhnte – er hatte auch in seiner Freizeit Jackett und Binder tragen müssen. Früh erlernte er den souveränen Umgang mit Subalternen. Was sich in seinem späteren Leben als ungemein nützlich erweisen sollte, wenn es etwa um die tägliche Sicherung eines adäquaten Restauranttisches ging; nicht zu zugig, nicht in der Mitte, nicht zu weit am Rand und auf gar keinen Fall in der Nähe der Küche oder der Toiletten.
Shandor hatte in seiner Kindheit zwar bei anderen Internatszöglingen mit dem Lamborghini Miura seines Vaters angeben können, aber darin keinen Platz gefunden, wenn seine Eltern ihn einmal besuchten. Das Fahrzeug besaß keine Rückbank. Als er älter wurde und ein eher gewöhnliches Internat des Zweckverbands bayerischer Landschulheime besuchte, auf dem auch Frantz seine Jugend verbrachte – vielleicht, damit er nicht zu sehr abhob? –, besaß Shandor stets alles, was Frantz und die meisten anderen nicht ihr Eigen nennen
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