Gehwegschäden
auch wenn er seit vielen Jahren keinen Film mehr gemacht hat und Marie-France also mit ihm nicht mehr arbeiten wird, aber man könne ja nie wissen − in diesen Zeiten sei ihr jeder Strohhalm recht. Frantz hat einmal auf einer Vernissage die rechte Kindertheatervergangenheitshand geschüttelt. Der Mann litt, so hatte es Frantz empfunden, unter einem schrecklichen Bedeutungsverlust. So wie die Münchner, die alle in den Ostteil der Stadt gezogen waren, war es ihm vorgekommen. All die Münchner Literaten, Journalisten und in München wirkenden Österreicher, die Jahrzehnte die Bereiche Lifestyle und Gesellschaft sowie das halbe deutsche Feuilleton dominiert hatten, unter einem schrecklichen, plötzlichen und scheinbar kollektiven Bedeutungsverlust gelitten haben mussten und praktisch über Nacht nach Berlin gezogen waren. Sie siedelten in den Stadtteilen Mitte und Prenzlauer Berg. Gott sei Dank fielen sie dort nicht weiter auf. Marie-France ist wütend in ihrer Entschlossenheit, und Frantz gibt nach. Ungern. Er würde jetzt lieber bei den Kaschuben unten am Kiosk stehen. Frantz schreibt in das Buch, das Marie-France der sehr viel jüngeren Freundin des Altenkindertheatergenies gekauft hat, es ist ein dicker Liebesroman, kurzerhand »Liebe Carola, alles Gute zum Geburtstag, und ich finde Dich sexy« hinein. Marie-France sagt, als sie das liest, ja was könne man einer Frau, die gerade fünfundfünfzig geworden ist, schon Besseres in Aussicht stellen.
Großbürgerliche Wohnung mit Flügeltüren und knarrendem Parkett. Palmbäume. Wände und Mobiliar reduziert auf Schwarz und Weiß wie gerahmte Kunst, der Mensch ist gut, die Leute sind schlecht, alles Achtundsechziger mit Armani-Jacketts und langen Zöpfen, aber Karl der Große ist da und Baffles, sein kurzes Fell schwarz und weiß wie eine Mimikry im Altberliner Zimmer, er kläfft und flitzt mit seinen Krallen über das Parkett in Frantzens Richtung, er kläfft wie Tuberkulose, und alle halten sich die Ohren zu. Frantz und der Dichter Karl der Große steuern die Küche an, traditionell das Getränkelager, da kreuzt Carola ihren Weg und hat das Buch mit Frantzens Glückwunsch unterhalb des Schmutztitels in der Hand. Carola lacht und umarmt Frantz, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellt und ihre Zunge in sein rechtes Ohr steckt. Frantz fährt auf. Er hasst das, diese ekelhafte Feuchtigkeit, diesen Krach in seinem Ohr. Baffles kläfft, und Carola fasst Frantz in den Schritt. Das ist ihm jetzt entschieden zu viel.
Er hat diese Widmung beileibe nicht wörtlich gemeint. Er hat keine Ahnung, welcher Teufel ihn dabei geritten haben mochte. Er kannte Carola ja kaum. Sie war einmal bei Marie-France zu Besuch gewesen. Carola hatte den Abend sichtlich genossen und nach einiger Zeit ausgelassen mit Karl dem Großen in Marie-France’ kleiner Wohnung getanzt und ihn sogar geküsst. Darauf tanzte Carola mit einem anderen Gast und küsste ihn innig. Karl der Große war beleidigt gewesen.
Frantz windet sich aus Carolas Würgegriff und schlängelt sich, unter dem Vorwand auf die Toilette zu gehen, an den Armani-Jacketts vorbei in die Küche. Eine Weile sitzt er da am Küchentisch bei einem grauhaarigen Mann, der von Konfuzius redet und wie am Fließband aber sehr kunstvoll konisch zulaufende Joints fabriziert und diese im Raum kreisen lässt. Frantz trinkt Weißwein, einen einfachen Chardonnay, den der Kindertheaterfestivaljuror zum Fünfundfünfzigsten seiner Freundin bereitgestellt hat. Er beobachtet den Auftritt des Altenregiegenies, der, weißhaarig und löwenmähnig, von einem Grüppchen zum anderen huscht, jede Szene eine Weile unterwandert und lauthals lacht. Karl der Große setzt sich neben Frantz und hebt Baffles auf seinen Schoß.
»Sach ma, weißt du, was die da drüben die ganze Zeit macht? Da auf dem Canapé im Wohnzimmer?«
»Wer?«
»Na Carola.«
»Was denn?«
»Die knutscht da mit einem nach dem andern rum. Aber so richtig. Ob der das gar nicht mitkriegt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist es ihm egal?«
Karl der Große grinst.
»Meinst du?«
»Na die sind doch alle so tolerant, diese Leute.«
»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«
In diesem Moment treffen Carola und der Joint gleichzeitig bei Karl dem Großen ein. Carola streichelt Baffles’ Bauch, Karl überreicht Carola den Joint, das Tier grunzt, Carola tänzelt zur Küche hinaus und Karl stöhnt. Der Weißwein ist alle.
Frantz und Karl der Große durchsuchen den Kühlschrank des
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