Gehwegschäden
kriegstraumatisiert. Andere sind mit ihren Eltern aus Afrika gekommen. Richtige Schiffsflüchtlinge, die haben gehungert und sind beinahe ersoffen, ihre Brüder und Großeltern sind unterwegs gestorben, und dann so was?«
Thomas ist erstaunt. Seit Jahr und Tag geht er zu diesem Platz, sitzt dort in der Sonne oder joggt darum herum, und er hat diese Jugendlichen gar nicht wahrgenommen? Ist er denn nie mit wachen Augen durch sein Viertel gelaufen? Da lebte er an einer direkten Schnittstelle zur Dritten Welt, praktisch an einem Sternentor nach Afrika und Sarajevo, er hätte sozusagen nur seinen Fuß da hineingesetzt und wäre eine Millisekunde später in Darfour gewesen, und er hat das gar nicht gewusst?
Seko schüttelt den Kopf.
»Die Jugendlichen haben ihre privaten Freier, und das ist nicht kontrollierbar, ob sie mit Gummi oder ohne. Das war den Sozialarbeitern da am wichtigsten, dass sie mit Gummi. Dass sie’s mit Gummi halten. Und bei mir war’s halt: dass sie gar nichts halten. Dass man sie ganz rausholt. Ich meine, die gaben ihnen nur so Täschchen. Die waren klein und rosa, man konnte sie am Gürtel festmachen. Darin waren Kondome. Und Salbe.«
Frantz sieht auf.
»Salbe?«
»So Creme.«
»Du meinst Gleitcreme?«
»Ja. Und irgendwelche Telefonnummern. Es gibt ’ne Tasse Kaffee, es gibt ’ne Currywurst und diese rosa Täschchen. Das kann’s doch nicht sein? Und dann habe ich für mich gesagt: Seko, das geht so nicht. Du musst sie jetzt da rausholen. Oder zumindest, wenn sie da drin sind, musst du sie auf dem Weg begleiten.«
Seko schweigt.
Frantz schweigt.
Es ist eine bedrückende Stille.
»Zuerst war’s bei mir Hass.«
Seko sieht Frantz an.
»Und dann war’s Mitleid. Ja? Weil du ja solche Sachen gar nicht erwartet hast. So was gibt’s nicht. Das geht nicht. Das ist tabu. Stell dir mal vor, meine Brüder, das waren Jungs, Führungspersonen, so wie die Jugendlichen am Teutoburger Platz, echte Gangkerle, Chefs. Wie können Führungspersonen, vor denen alle Kieze zittern, anschaffen gehen? Du kannst doch nicht Respekt erwarten, und dann gehen diese Leute anschaffen? Das waren so die Grenzen.«
»Was meinst du mit Grenzen?«
»Bei mir ist das Problem, ich sag’s dir mal im Ernst. Es hat mich geekelt. Man muss das in Relation zu neunzehn sehen. Erst nach einer Weile hab ich gemerkt, das ist die Armut. Nicht da rauskommen können. So was.«
Frantz schweigt. Vor seinem geistigen Auge sieht er die Eltern, die an den Sommerabenden mit ihren Panamahüten und luftigen Sommerkleidern vor dem Platzhaus saßen, Wein tranken, ein wenig Charcuterie dazu, und Boule spielten. Er hatte das immer als ein wahnsinnig friedliches Bild empfunden und sich manchmal sogar gewünscht, er könne sich dazusetzen, in dieses Bild hineingehören. Frantz nippt verlegen einen Schluck Kaffee. Er schmeckt grauenhaft. Seko sieht auf den sandfarbenen Boden. Frantz steckt sich eine Zigarette an.
»Oder ihr hoher Drogenkonsum. Wieso haben sie jetzt am Wochenende so einen hohen Drogenkonsum? Von Haschisch bis hin zu Kokain. Plötzlich ist mir klar geworden: wahrscheinlich, um abzuschalten. Als Schmerzmittel, dass sie nichts empfinden. Speed, Ecstasy. Ich weiß genau, sie haben’s als Schmerzmittel genommen.«
Seko macht eine Pause. Er wartet, bis Frantz aufsieht.
»Gut. Weiter?«
»Dann entwickelte sich das professionell. Ich nahm an diesen Fortbildungen teil, entwickelte mich und hatte einen anderen Blick auf diese Thematik. Auf die Thematik Anschaffen und auch auf die Thematik Sozialarbeit. Und für mich ist eigentlich auch im Nachhinein immer noch das Ding, wenn du Hunger hast, das ist ein Ding, und Kriege und die Armut in Afrika, das ist ein anderes. Aber die Prostitution ist das Äußerste, glaube ich.«
»Haben sich die Mädchen auch prostituiert?«
»Nein.«
Seko rührt im Rest seines türkischen Kaffees und isst einen Löffel Bodensatz.
Liebe Leute vom Teute: Steckt Ihnen das schreckliche Erlebnis noch in den Knochen? Angst? Panik? Schweißausbrüche? Lernen Sie U-Bahn fahren!, sagt der Guckkasten am Teutoburger Platz. Wenn Sie sich Sorgen um eine Panikattacke in der U-Bahn, der Straßenbahn, einem Schnellzug machen, haben Sie wahrscheinlich schon einige schlimme Erlebnisse hinter sich. Die schreckliche Erinnerung daran mit intensiven Paniksymptomen und körperlichen Reaktionen steckt Ihnen noch in den Knochen! Tatsächlich wurde bei der ersten Panikattacke, sagt der Guckkasten, in der U-Bahn eine starke
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