Gehwegschäden
den Jungen, lebensbedrohlich. Er ist unten durch oder tot. Und vielleicht auch die Leute, die dazu beigetragen haben. Also die Freier. Diese Sensibilität habe ich versucht zu wecken. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Familie den Schwulen und den halben Nollendorfplatz plattmachen würde.«
Amina weint. Frantz schreibt und redet gleichzeitig.
»Deswegen hast du es nicht thematisiert, damit die Familien das nicht mitkriegen …«
»Es gibt Problematiken, die spricht man an. Wenn es um die Ehre der Schwester geht. Und dann gibt es Themen, die spricht man nicht an. Weil es Tote geben kann. Wir haben es geschafft, die Sache so flach zu halten, dass wir darüber reden konnten unter den Kollegen und arbeiten. Das hat mich dann fasziniert und mir Freude bereitet.«
»Und das hat dich dazu bewogen …«
Seko greift den Satz auf: »… zu sagen, das ist meine Lebenseinstellung, und Geld spielt da keine Rolle mehr. Ein Sozialarbeiter kann von mir aus 500 Euro verdienen. Man macht das nicht fürs Geld. Sondern als Lebensmotto, oder so. Du kannst ja Arzt sein und sagen, okay, weil ich so ein Profi bin fürs Gehirn, bekomme ich 100 000 Euro für deine Operation. Aber nur wenige würden sagen, ich rette dir das Leben, und dafür ist es mir egal, ob ich bezahlt werde oder nicht. Ich glaube, das gibt es in anderen Berufen nicht. Ich würde auch weniger verdienen. Hauptsache, ich habe die Freude …«
Frantz führt den Satz zu Ende: »… helfen zu können.«
»Ja.« Seko lehnt sich zurück. Die Hollywoodschaukel quietscht. Amina quengelt. Seko fährt sich mit beiden Händen unter das ärmellose T-Shirt und kratzt sich am Bauch. Frantz klickt an seinem Kugelschreiber herum.
»Was ist aus den Jugendlichen geworden?«
»Die sind weitergewandert. Das Problem hat sich von alleine gelöst.«
»Weitergewandert?«
»Einige der Eltern haben die grüne Karte bekommen und sind nach Amerika gegangen. Das waren die Balkanjugendlichen. Ich glaube, die Väter haben gemerkt, dass das hier schwierig war. Es gab eine Welle vom Arbeitsamt, dass sie hier grüne Karten bekommen haben. Einige Weißrussen sind nach Australien gegangen. Es gab so Abschiedsszenen. Wir waren alle am Ostbahnhof.«
»Und die anderen?«
»Die Gruppe wurde immer kleiner. Bis sie zu einem kleinen Häufchen geschrumpft ist. Die Mädels haben geheiratet. Einige durften studieren. Ich sehe einige von den Arabern, manchmal. Ein paar haben’s geschafft. Zu den Obstläden. Dönerbuden. Andere haben das gemacht, wo man sagen würde, no future. Es ist aber eher so, dass es ruhig geworden ist am Teutoburger Platz.«
»Ruhig? Sind denn jetzt keine mehr auf dem Platz?«
»Doch. Aber die sind nicht mehr auffällig. Die Stadt bezahlt den Träger, das sind wir, damit der Brandherd gelöscht wird und niemand mehr auffällig ist. Das ist wie am Alex. Solange es dort Punks gibt, die auffällig sind, gibt es Sozialarbeiter, die versuchen, das Problem zu lösen. Sobald es ruhig wird und die Bürger und Touristen sich nicht mehr belästigt fühlen, hört das Projekt auf.«
Frantz ist schlecht. Er drückt die Zigarette aus und wischt Asche von dem mit Acrylanteilen angereicherten Polyesterstoff.
»Womit du gerade dein Schlusswort gesagt hast«, sagt er nach einer Weile.
Thomas Frantz verabschiedet sich von Seko. Er gibt ihm die Hand, Seko begleitet ihn durch den schmalen Sandsteingang zwischen Zaun und Zwillingshauswand zur Straße. Seko hebt die Hand, Frantz läuft zu seinem Fahrrad, er schließt die Kette auf, fährt los, fährt ein paar Blocks, ganz mechanisch, und hält an. Er hat das Gefühl, kotzen zu müssen, vielleicht wegen des türkischen Kaffees und zu viel Zigaretten, würgt aber, mit beiden Händen an eine Hauswand gelehnt, nichts als Säure herauf.
24. Das Wir-Gefühl der Eingeweide
Am Tag, an dem Deutschland die Lüge wählte, erwachte Thomas Frantz spät. Er fühlte sich nicht wohl. Stand auf, duschte, rasierte sich und fuhr mit dem Fahrrad ins Wahllokal. Später, obwohl es noch zu früh war, kam es ihm vor, als hielte Dämmerung Einzug. Frantz ging zur Bank, dann in den Tabakladen. Immerhin, dachte Frantz. Er hatte noch ein Guthaben von sieben Euro. Er kaufte eine Packung Zigaretten, und als er zahlte, blickte er sich um. Hinter ihm lief ein Fernseher. Die ersten Hochrechnungen. Es reicht nicht, murmelte Frantz nach dem ersten flüchtigen Blick auf die Zahlen, mehr in Gedanken. »Doch, doch«, sagte der Chinese oder Taiwanese, der Frantz die Zigaretten
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