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Gehwegschäden

Gehwegschäden

Titel: Gehwegschäden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Kuhn
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verkauft hatte, »es reicht. Wegen der Überhangmandate.«
    Frantz ging hinaus auf die Straße. Er schloss die Fahrradkette auf, dann überkam es ihn.
    Thomas Frantz weinte.
    Dieser große, starke Mann heulte.
    Er wusste nicht, warum. Er konnte sich darauf keinen Reim machen. Er spürte eine Traurigkeit, eine Verbitterung, die ihm zuerst im Halse stecken blieb, und dann überfiel ihn der Heulkrampf wie ein Straßenräuber und schüttelte ihn vollkommen durch. Er konnte sich nicht wehren. Bitter flennend bestieg er sein Rad, niemand nahm von ihm Notiz.
    Marie-France war in Belgrad. Sie war zu einem Dokumentarfilmfestival eingeladen und hielt dort ein Schnittseminar. Frantz hatte nur einen Gedanken: Fred. Fred war der Einzige, der ihm noch helfen konnte.
    Fred saß in der Galerie am Schreibtisch seines Galeristen. Als er Frantz sah, ein Haufen Elend dort in der Tür, humpelte er, so schnell er konnte, er humpelte, weil in der Nacht zuvor ein gemeiner Bordstein in seinen Nachhauseweg gesprungen war, humpelte auf ihn zu und sah, dass Frantz weinte.
    »Was isn los? Is deine Ziehmutter gestorben?«
    »Die Wahl …«, stammelte Frantz. »Die haben gewonnen. Diese Dreckschweine haben auch noch gewonnen!«
    »Was? Komm, wir gehn eine rauchen.«
    Fred nahm Frantz in den Arm und humpelte mit ihm hinaus in den Innenhof. Sie setzten sich auf die kleine Bank vor der Gartenhauswohnung des gerade schwangeren älteren schwäbischen Galeristenpärchens. Frantz beruhigte sich ein bisschen.
    »Was macht dich denn so fertig?«, fragte Fred. »Is doch egal, wer regiert, ich mein, spielt doch keine Rolle? Was hastn?«
    Frantz ist mürbe, vom Alkohol. Mürbe von Zwangsvollstreckungen.
    »Tag für Tag. Es wird schon bessergehen. Als würdest du dir ständig einreden: Nein, diese eine Stunde trinke ich nicht. Vielleicht in der nächsten Stunde. Aber diese Stunde nicht. Stunde um Stunde.«
    Dieser Berg von einem Mann ist anfällig geworden. Mit der Müdigkeit stellen sich Symptome ein. Magen, Darm, Husten, nervöser Schnupfen. Heiserkeit, eine latent leicht erhöhte Temperatur. Und vielleicht fühlt Thomas Frantz, und sei es nur in diesem Moment, noch etwas anderes, das sein körperliches Chaos noch steigert. Eine Ohnmacht, ein Wir-Gefühl in seinen Eingeweiden?
    Fred zog ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hose und reichte es Frantz. Frantz schnäuzte.
    »Fred, die ärmste Sau, die ich kenne, bist du. Aber mir zerfrisst die Armut den Magen.«
    »Ach, Berlin isch voller armer Schweine. Die leben alle. Du verhungerst schon ned.«
    »Die Leber verlangt nach Mindestlohn. Die Därme sind keine Leistungsträger mehr. Als würde es gären in meinen Eingeweiden.«
    »Vielleicht kriegsch ja ’ne Abwrackprämie dafür? Tha!«
    »Und die Leute, die uns allen Dreck zu fressen geben, werden dafür auch noch gewählt. Die Glatten. Die Aale. Die Giftschlangen. Diese Schmallippen und Anpasser, all die Wasserträger. Wann gab es in diesem Politzirkus überhaupt den letzten Menschen? Frag ich dich. Willy Brandt? Hä? Und sogar Strauß, den haben wir wenigstens gehasst.«
    »Mir ham’en gliebt.«
    »Und sie haben gewonnen, weil sie die Karriere zur Staatsräson erhoben haben und das Prinzip Lügen-Anpassen-Abgreifen zur Religion. Weil sie den Markt zum Götzen machen. Das alles triumphiert in dieser abschlachtungswürdigen Person. In diesem hundertprozent humorfreien Möchtegernaußenminister, diesem, diesem gefrorenen Smiley, diesem eiskalten Dreckschwein, diesem Möllemann-auf-dem-Gewissen-Haber, ein großes Loch in der Erde hat er da zurückgelassen, aber ein Schwein musste ja gekillt werden nach der verpatzten Wahl mit Edi, wo’s doch der Junior war, der’s vergeigt und abgekackt hat, aber da ist kein Loch in dem geblieben, weil’s nicht gereicht hat und der Möllemann doch die Schlachtsau war und seinen Einzelstern gesprungen ist.«
    »Willsch ’n Bier?«
    Fred stand auf, humpelte und holte das letzte Bier aus dem Kasten unter seinem Schreibtisch. Frantz rauchte. Etwas stach plötzlich in seinem Bauch.
    »Wir sind wie eine Telefongesellschaft. Wir sind nur noch Betrüger. Hauptsache, irgendwo noch ein paar Cents herauspressen. Wenn du keine Eigentumswohnung hast, schlägst du dich mit manipulierten Nebenkosten herum. In den Parks machen sie Jagd auf Hundehalter, die ihr Vieh nicht an der Leine führen. Fünfzig Euro. So geht das. Parkraumbewirtschaftung ist auch so ein Wort. Synonym für Knochenmarkpresse. Wer schreibt denn schon in seinen

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