Gehwegschäden
stand bei Albers hoch im Kurs. Trotzdem ist das so eine Sache, lehrte er Frantz. Ist der Boden weich oder hart? Sandig oder nass? Welche Distanz? Jedes Gramm Gewicht zählt, und es kann jeder jederzeit Galopp gehen. Seine persönliche Trefferquote sah Dirk bei 60 zu 40. Das hieß: 60 Prozent verloren, 40 gewonnen. Ich bin ein Glückspilz, sagte Dirk. Wer in der Hermannstraße die Hunde im dritten Rennen in Dublin kannte, wer wie Dirk mit den Gäulen per Du war, wer wie Mirko wusste, wer bei Trondheim auf der Bank blieb und wer bei Lazio pfiff, der war jemand. Zocken ist wie theoretische Physik. Nur ein Spatzengehirn würde vor einem Wettschein mit zwölf Unbekannten zurückschrecken, sagte Fred und holte Bier.
Dinslaken, drittes Rennen, 7-6-4. Fiona Kö, Shoguns Crown und Wesley Rich bei Quote 7,6, lautete die Durchsage. Century Break von Ronnie O’Sullivan am Snooker-Tisch der Welsh Open mit 15 x (1 + 7) = 120. Frantz schwirrte der Kopf. Kurz vor dem nächsten Start hastete alles zum Schalter. Wall Street, meinte Frantz. Das ist doch im Menschen drin, sagte Mirko. Dass jeder sein Glück sucht. Aber das Glück hat Regeln.
»Nein! Glück ist, wenn ich gewinne«, sagte ein Araber am Nachbartisch.
»Blödsinn! Et is doch nicht det Jeld. Et is die Bestätijung meines Wissens: Ha ick’s nich jesacht?«
Peter haute mit der Faust auf einen der beiden Rollkoffer, die stets neben seinem Stuhl standen.
Postpeter. Pall Mall, kleiner Kobold. Kleine, flinke Augen, langes graues Haar zum Zopf gebunden. Postangestellter in Ostberlin. Kellner im Restaurant Prag. Jeden Tag umrubeln. Danach Roulette in der Spielbank, Hotel Forum am Alex. Karlshorst und Hoppegarten. Seven Eleven und Baccara im Wohnzimmer. Wir Spieler im Osten kannten uns. Am Ende hockten wir auf Kartons. Ick hab bestimmt ’ne Million verzockt. Jetzt verkauf ick Jebrauchswaren. Zigaretten, Shampoo, Würstchen in Dosen. An Taxifahrer. Die stehen am Stand und haben fürs Einkaufen keine Zeit. Ick habe mein Jeschäft immer dabei. In zwei Rollkoffern. Jeh ick mause, zieh ick mit de Rollkoffer los und mach mir wieder schick.
Postpeter hatte zehn Mannschaften für morgen. England, Italien, Holland. 2027 Euro Gewinn bei 30 Euro Einsatz. Fred und der Mistkäfer beteiligten sich. Der Schweizer zögerte noch. Wir müssen uns doch jejenseitich aus der Scheiße helfen, sagte Peter. Frantz legte einen Zehner drauf. Peter lief zum Schalter. Am Schalter lagen Broschüren. Wenn das Glück einmal nachlässt. Darin ein Fragebogen und die Adresse einer Suchtberatungsstelle. Frantz setzte noch 30 auf eine Zwölfer-Kombiwette von Mirko bei einer Quote von 18. Das ist hier die Hölle, sagte Mirko. Daher kommt das Wort: Spielhölle. Er trank einen Schluck Cognac. Frantz trug das Geld zum Schalter. Maarten grinste.
»Du bist noch neu. Ich sag dir jetzt was: Gute Wetter sind Leute, die übers Jahr mit null hier rauskommen.«
Maarten zählte das Geld. Der Slip flutschte aus einer Maschine. Maarten riss ihn ab und legte ihn auf die Drehscheibe.
Am späten Nachmittag saßen sie auf der Bank vor dem Kiosk neben Albers. Mirko, Frantz, Fred, Ansgar, Josef, Peter und der Schweizer. Sie tranken und rauchten. Die Lage war ernst. Fred saß der Gerichtsvollzieher im Nacken. Der Schweizer jammerte, weil sein letztes von der Pro Helvetia gesponsertes Projekt auslief und damit die Nutzung seines Berliner Sekretariats. Fred konnte seinen Schuldenberg nur noch mit Hilfe von Anwälten umschichten. Obwohl er jede Nacht an seinem Supercomputer saß, verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, Zahlungsbefehle abzuwenden, auf Verfahrensfehler und verstrichene Fristen zu lauern sowie aufgelaufene Zinsen, Inkassogebühren und Gerichtskosten abzutragen. Er wirkte völlig ausgelutscht. Der Schweizer wälzte wieder den Gedanken, einen Imbiss für Raclette mit Gschwellti aufzumachen. Hypothetisch. Sein Anzug war an den Ärmeln ausgefranst. Nur der Mistkäfer hatte noch Reserven. Eine Einzimmerwohnung irgendwo in Cottbus, die ihm ein bayerischer Anlageberater seinerzeit aufgeschwatzt hatte.
Thomas Frantz hatte noch ungefähr 70 Euro auf dem Konto. Er besaß keine Kreditkarte mehr. Er führte ein Guthabenkonto. Im Grunde war er froh darüber. In den Zeiten, in denen er noch Reportagen von den Brennpunkten dieser Welt schrieb und ihm die Verlage zu Weihnachten ganze Kisten Cuvée aus dem eigenen Weingut schickten, hatte er am Rande des Dispos gelebt und sein Geld oft verschenkt. Bis ihn die Verlage
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