Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
entspreche. Das Gehirn eines Orang-Utans hingegen habe eine Oberfläche von höchstens 50 000 mm 2 .
DIE AFFENSPALTE
Brodmann führte auch vergleichende Untersuchungen zu den Unterschieden zwischen Gehirnen von Menschen unterschiedlicher ethnischer Abstammung durch - wie man es heute bezeichnen würde. Er selbst sprach von >fremden Rassen<. 14 Einer seiner Kollegen aus Jena hatte ihm drei Gehirne von Javanern geschenkt, wodurch sich ihm die Gelegenheit bot, der Existenz oder Nichtexistenz der sogenannten >Affenspalte< bei menschlichen Gehirnen nachzugehen. Der englische Antropologe Elliot Smith hatte zahlreiche ägyptische und sudanesische Gehirne untersucht und bei siebzig Prozent im Hinterhauptlappen eine Spalte entdeckt, die man bis dahin allein bei Menschenaffen vorgefunden hatte. Brodmann hatte seinerzeit mit Skepsis reagiert. Nachdem er jedoch seine drei javanesischen Gehirne untersucht hatte, konnte er es nicht mehr leugnen: auch sie hatten diese Affenspalte. 15 Außerdem entsprach der Umfang eines bestimmten Areals in den Gehirnen der Javaner eher dem entsprechenden Gebiet in Gehirnen von Orang-Utans als dem europäischer Gehirne«. Mit Detailansichten der Hinterhauptlappen eines der javanesischen Gehirne und eines fünfjährigen Orang-Utan-Männchens präsentierte Brodmann den visuellen Beweis für die Affenspalte, die ihnen gemein war. Außerdem schnitt er - messen bedeutet wissen - nicht weniger als 2100 Präparate aus der hintersten Spitze des Orang-Utan-Hinterhaupt-lappens und bildete jeden hundertsten Schnitt in der Form eines gezeichneten Diagramms ab. Auch diese achtzehn Diagramme demonstrierten nach Brodmann, dass das Orang-Utan-Gehirn dem javanesischen Gehirn ähnlicher war als dem europäischen. Später gelangte Brodmann noch in den Besitz von Hottentottengehirnen. Auch bei ihnen zog er dieselbe Schlussfolgerung: Wie schon die Javaner glichen auch sie mehr den Gehirnen von Menschenaffen als denen von Europäern.
Bei diesem Teil von Brodmanns Werk handelt es sich um einen aufschlussreichen Schnitt aus der Geschichte der Neurologie. Gegen seine Untersuchungen lassen sich zahlreiche methodologische Bedenken äußern: So kann man fragen, wie repräsentativ die drei Gehirne der Javaner waren. Über Alter, Krankheit oder Todesursache fehlt jegliche Information. Ebenso wenig ist bekannt, in welchem Zustand die Gehirne nach der langen Reise von Java nach Berlin waren. Waren sie balsamiert, in Alkohol konserviert? Die Untersuchungen wurden nicht >blind< durchgeführt. Brodmann wusste bei der Erstellung der Karten stets, aus welchen Gehirnen die Schnitte stammten - ein Vorgehen, das der Beeinflussung durch Vorurteile Tür und Tor öffnet. Gleichzeitig muss man sehen, dass der gesamte Atlas auf diese Weise entstanden ist und diese Bedenken nie gegen das Zustandekommen der anderen Teile des Atlasses geäußert wurden. Man kann nur feststellen, dass Brodmanns nach allen damaligen Regeln der Kunst durchgeführte
Untersuchung das herrschende Vorurteil, alle anderen Rassen außer der weißen hätten auf dem Weg vom Menschenaffen zum Menschen noch ein Stück Weg zurückzulegen, nicht ausräumte, sondern ihm gerade wissenschaftlichen Status verlieh. Zählend, messend, wiegend, beobachtend und vergleichend und mit dem besten Instrumentarium, das es gab, betrieb Brodmann Neurologie auf höchstem Niveau - und dabei fügten sich seine Fakten einwandfrei in das, was europäische Gelehrte und die Öffentlichkeit sowieso schon dachten.
DAS VISUELLE ARGUMENT
Als die Lokalisationslehre erschien, wurde sie ausführlich besprochen, was zum Teil am Ton des Buches selbst lag. So, wie Brodmann in seiner Einleitung die Lehrmeinungen seiner Vorgänger wiedergab, entstand leicht der Eindruck, bis zu seinem Kommen habe im Reich der Gehirnforschung totale Anarchie geherrscht: terminologisch, methodologisch, topographisch und theoretisch. Brodmann ging ausführlich auf die Widersprüche in den Ergebnissen seiner Vorgänger ein und schloss seine Darstellungen mit Sätzen wie: »Wie verhält es sich nun tatsächlich damit?« Doch bei allem Respekt, den der neue Atlas abnötigte, empfand man diesen Ton auch als störend. Der Amsterdamer Neurologe Ariens Kappers schrieb in einer langen Rezension, die Brodmanns Werk ausführlich würdigte, Brodmann solle sich in einer Neuauflage doch bemühen, an den Untersuchungen anderer auch ein gutes Haar zu lassen. 16
Brodmann berief sich in seiner Lokalisationslehre auf die Überzeugungskraft
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