Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
höchstens eine Handvoll menschliche Gehirne unter seinem Mikroskop. In Anbetracht dessen, dass sich der Umfang mancher Gehirnareale von Mensch zu Mensch um den Faktor acht oder neun unterscheiden kann, stützten sich spätere Neurologen bei ihrer Topographie eher auf Durchschnittswerte des Gehirns. Auch Brodmanns Beschränkung auf das erwachsene, gesunde Gehirn ließ Raum für die Darstellung der Entwicklung des Gehirns in der embryonalen Phase, seines Heranreifens oder seiner Rückbildung, oder für die Kartierung der Neuropathologie, die Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson zugrunde lag.
»ER KONNTE LEDIGLICH IN EIN MIKROSKOP STARREN.«
Ein Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Lokalisationslehre dienen die Brodmann-Areale noch immer als topographische Koordinaten - selbst in den Dutzenden von Atlanten, die nach ganz anderen kartographischen Prämissen zusammenstellt wurden. In vielen Fällen zeigte sich, dass sich Struktur und Funktion gut aufeinander projizieren lassen, so dass die Brodmann-Areale 1, 2 und 3 heute die somatosensorische Gehirnrinde bilden, 17 und 18 den primären visuellen Cortex und 41 sowie 42 die auditive Hirnrinde. Bildgebende Verfahren in der Hirnforschung haben zu neuen Impulsen in der neurologischen Kartographie geführt. Der Wissenschaftsforscher Beaulieu beschreibt in seiner Dissertation, dass Gehirnkarten, wie Blaeus Atlanten, einerseits das Ergebnis von Untersuchungen waren, andererseits jedoch auch die Richtung der Untersuchungen bestimmten. In der Gemeinschaft der Forscher waren sie von großem strategischem Interesse. 19 Beaulieu macht auch deutlich, dass Gehirnkartographie zu einer Art >high tech< wurde, die in keiner Weise mehr an das stille Schneiden und Zählen in Vogts Labor erinnert. Ein seit den Neunzigerjahren häufig verwendeter Atlas ist der >Talairach<, zusammengestellt von den Pariser Neurochirurgen Talairach und Tournoux. 20 Wie Brodmann kartierten sie eine einzige Hemisphäre - in ihrem Fall die einer über sechzigjährigen Frau - und legten die fotografischen Schnitte in einen cartesianischen Raum mit drei Achsen. Dadurch konnten Gehirnareale in einem dreidimensionalen Koordinatensystem angegeben werden. Die Brodmann-Areale lassen sich einfach auf die Oberfläche dieses Gehirns projizieren.
Kürzlich wurde ein kartographisches Projekt begonnen, das sehr an das Brodmanns erinnert. 21 Sein Initiator Karl Zilles ist
Deutscher wie Brodmann und am Cecile-und-Oskar-Vogt-Institut für Hirnforschung der Universität Düsseldorf tätig. Der Atlas wird, wenn er fertiggestellt ist, auf dem Durchschnittswert von fünfzehn Gehirnen beruhen. Jedes Gehirn kommt in einen Paraffinblock und wird dann in fünf- bis achttausend Präparate mit einer Dicke von 20 Mikrometern geschnitten. Jeder Schnitt wird auf ein Glasplättchen gelegt, jeder fünfzehnte Schnitt wird eingefärbt, um die Zellen sichtbar zu machen, jeder sechzigste Schnitt wird tatsächlich mit Hilfe eines Scanners analysiert. Ein Computer berechnet die Zelldichte und bestimmt anhand von statistisch signifikanten Unterschieden, wo Grenzen liegen. Der Abstand zwischen den analysierten Schnitten betrage 1,2 mm, was im Moment ausreichend sei - so Zilles in einem Interview in Nature. 22 Sollte in Zukunft Bedarf an detaillierteren Karten bestehen, ließen sich die aufbewahrten Schnitte noch nachträglich analysieren.
Wie seinerzeit Brodmann preist Zilles seinen Atlas für dessen >objektive Technikern. Für ihn liegt diese Objektivität vor allem im automatischen Erfassen der Zelldichte durch den Computer, der mit Hilfe eines Statistikprogramms auch die Grenzen der Areale definiert - eine Art mechanische Objektivität, welche die Kartographie so weit wie möglich menschlicher Intervention zu entziehen versucht. In dem erwähnten Interview streift Zilles beiläufig das Werk seines lllustren Vorgängers und sagt dabei ein Wort, das Korbinian Brodmann einen Schauer über den Rücken gejagt hätte: »Brodmanns Urteil über das, was ein Cortexareal ist, war - notwendigerweise - subjektiv: er konnte lediglich in ein Mikroskop starren und berichten, was er sah.« 23
Brodmann bei der Arbeit im Neurotopographischen Laboratorium des Neurobiologischen Instituts in Berlin.
Auf einem der seltenen Fotos, die Brodmann bei seiner Arbeit zeigen, macht er genau dies: er starrt in ein Mikroskop. Er sitzt an einem Tisch gegenüber dem Fenster, so dass das Licht
»Er konnte lediglich in ein Mikroskop starren.« 239
auf das Präparat
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