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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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des visuellen Arguments. Die hundertfünfzig Abbildungen des Buches lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen: gezeichnete Karten und >Mikrofotografien<. Im selben Jahr, in dem Brodmann nach Berlin gekommen war, hatte Vogt auch den Fotografen Wilhelm Riedel angestellt, dem es gelungen war, ein Verfahren zu entwickeln, das relativ scharfe Fotos von Gehirnschnitten ermöglichte. Bei den meisten Abbildungen in der
    Lokalisationslehre handelt es sich um Mikrofotografien. Auf dem Rand der Fotos gab Brodmann an, welche Zellschichten oder Zelltypen zu sehen waren. Alles, so Brodmann, worüber Uneinigkeit bestehen könne, sei es nun die Anzahl der Schichten, Zellendichte oder Zellengröße, lasse sich durch eine genaue Betrachtung der Präparate auflösen: »Ich denke, dass meine Abbildungen schon beim flüchtigen Vergleich eine eindeutige Antwort auf die aufgeworfenen Fragen zu geben vermögen.« 17 Dieser Aspekt ist insofern auffällig, als die Einteilung der Areale ja gerade auf dem Zählen und Messen von Zellen beruhte und die Mikrofotografien eigentlich die Repräsentation dessen sein sollten, was gezählt und gemessen wurde. Der quantitative Vergleich, der die Basis des gesamten topographischen Projekts war, wird nur an ganz wenigen Stellen in der Form von Zahlen präsentiert. Brodmann war also auch in dieser Hinsicht ein echter Kartograph: ganz offensichtlich bevorzugte er die visuelle Darstellung.
    Andere zytoarchitektonische Karten sind nie mehr auf eine so große Resonanz gestoßen, wie es bei Brodmanns Atlas der Fall war. Der französische Wissenschaftsforscher Bruno Latour hat einst den Begriff >Beweiswettlauf< geprägt. 18 Darum scheint es sich hier zu handeln. Die Möglichkeiten und Mittel, Evidenz zu erzeugen, zwingen Rivalen dazu, stets größere Geschütze aufzufahren. Die Kosten bezüglich Zeit, Budget und Apparatur können so sehr nach oben schießen, dass die Gegenpartei realisiert, wie aussichtslos ihr Unterfangen ist. Man stelle sich vor, wie ein Forscher, der nach Brodmann eine alternative Kartographie des Cortex präsentieren wollte, seine Beweise produzieren müsste. Auch er müsste sich ein Jahrzehnt lang ungestört seiner Aufgabe widmen können, ihm müsste ein gut ausgestattetes Labor zur Verfügung stehen, er müsste einen ans Manische grenzenden Arbeitseifer besitzen, der alles andere als ein zölibatäres Leben ausschließt, und er müsste -nicht zu vergessen - gute Beziehungen zum örtlichen Zoo unterhalten. Außerdem müsste er ein ausgeprägtes Gefühl für Präzision, Ordnung und Standardisierung besitzen und bei all dem auch noch die leicht polemische, zur Besserwisserei neigende Haltung, die ihm den nötigen Motivationsschub für ein so langwieriges Projekt verleiht. Diese besondere Konstellation von Faktoren schwebte zwischen 1901 und 1910 über Berlin - und verflüchtigte sich dann wieder.
    Hinzu kam, dass Brodmann bei der Wahl des Maßstabs eine glückliche Hand hatte. Das Ehepaar Vogt gab eine Gehirnkarte auf Basis der Fasernarchitektur heraus, die fast vier Mal mehr Felder unterschied als Brodmann. Doch bei der praktischen Anwendung erwies sich die Karte als zu detailliert. Die Einteilung in etwas weniger als fünfzig Felder war gut zu handhaben. Das heißt natürlich nicht, dass sonst keine weiteren Gehirnkarten mehr erschienen. Brodmanns kartographische Auswahl ließ ausreichend Raum für andere topographische Projekte. Brodmann kartierte keine Schichten, die tiefer als einige Millimeter unter der Oberfläche lagen, wodurch seine Karten den Charakter von Landkarten des sechzehnten Jahrhunderts hatten: Man sah von gerade entdeckten Kontinenten die detailliert gezeichneten Küsten - und dahinter leere, weite Flächen. Viele der später erschienenen Atlanten beruhten auf vertikalen oder horizontalen Schnitten des gesamten Gehirns. Ihr Aufbau war heterogener und sie enthielten Karten der großen Strukturen, mit Nervenbahnen und dem verzweigten Blutsystem oder dem Aufbau des Kleinhirns.
    Eine andere Beschränkung ergab sich aus Brodmanns Vorgehensweise: In Form von Stichproben zerschnitt er individuelle Gehirne in Hunderte von Präparaten, analysierte deren Zellstruktur, zählte Zellen und transformierte die Ergebnisse zu einer Topographie - all das bei vielen unterschiedlichen Säugetieren (in der Lokalisationslehre tauchen über sechzig verschiedene Arten auf). Das bedeutete jedoch, dass es sich um individuelle Gehirne handelte, die er da untersuchte. So hatte er zum Beispiel

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