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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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spät klar, was los war. Als er im Spiegel die Kristalle in seinem rechten Auge erkennen konnte und man ihm erzählte, sein Augapfel sei silbrig geworden, wurde ihm bewusst, dass sich in seinen Augen der Star entwickelte.
    Clerambault hatte von einer neuen Technik bei der Operation des grauen Stars gehört, mit der der Star schon entfernt werden konnte, während er sich noch im Entwicklungsstadium befand. Diese Methode hatte der spanische Augenarzt Ignacio Barraquer entwickelt. 21 Die >Barraquer-Operation< ist noch immer ein bekanntes Eponym in der Augenheilkunde. Ein wichtiger Bestandteil der Operation ist die Entfernung der angegriffenen Kristalle, indem man einen Saugnapf darauf anbringt. Barraquer hatte sich dafür von einer Beobachtung am Krankenbett seines Vaters inspirieren lassen (der zugleich sein Vorgänger als Professor der Augenheilkunde war): Er sah, wie einer der Blutegel in einem Glas neben dem Bett Steinchen hochhob, indem er sie mit einer napfförmigen Ausstülpung erfaßte, ein Vakuum herstellte und sie ansaugte. Das Gerät, mit dem die Saugkraft genauestens eingestellt werden konnte, hatte er selbst entworfen. Aus der ganzen Welt kamen Patienten nach Barcelona in seine Klinik. 22 In Paris besucht Clerambault jemanden, der die Operation hat durchführen lassen und bereit ist, seine Pupillen vorzuzeigen: Sie sind makellos rund und sein Sehvermögen ist vollkommen wiederhergestellt. Nach diesem Besuch beschließt Clerambault, sich so schnell wie möglich nach Barcelona zu begeben.
    Die nächtliche Zugfahrt empfindet er als den Anfang der Befreiung. Unterwegs versetzen ihn die Lichter noch einmal in die Lage, die seltsamen optischen Verformungen von Lichtreizen wahrzunehmen, hoffentlich zum letzten Mal. Schon am Tag nach seiner Ankunft wird er operiert. Alles verläuft gut. Nach der Operation muss er fünf Tage in absoluter Ruhe das Bett hüten, weil die dünnen Nähte durch die geringste Gesichtsbewegung reißen können. Erst nach diesen fünf Tagen darf der Verband abgenommen werden. Barraquer kommt jeden Tag zweimal vorbei. Die Visite dauert immer länger. Offensichtlich schätzen der Augenarzt und der Psychiater gegenseitig ihre Gesellschaft, was durchaus verständlich ist: Beide haben Interesse an technischen Fragen, dozieren in Kunsthochschulen und haben viel außerhalb ihres eigenen Faches studiert. Barraquer redet endlos über die Tiere des kleinen Tiergartens, den er bei der Klinik eingerichtet hat. Am fünften Tag darf der Verband kurz ab: Barraquer hebt fünf Finger, Clerambault darf durch die Lupe einen Augenblick auf Barraquers Armbanduhr schauen, danach muss der Verband wieder angebracht werden. Was er auf die Schnelle gesehen hat, versetzt ihn in Entzücken: Farben, Konturen - kein Zweifel, sein Auge wird sich erholen.
    Aber in der Nacht danach geht es schief. Im Schlaf dreht er sich auf die Seite des operierten Auges. Durch den Druck springen die Klammern und das Auge läuft voll Blut. Clerambault spürt einen stechenden Schmerz. »Um acht Uhr erklärt Barraquer, enttäuscht und wütend, es gebe keine schlimmeren Patienten als Ärzte. Er bereue es, dass er so viel Besuch gestattet habe, und es sei mein übermäßiges Geschwätz gewesen, das mein Hirn im Schlaf an die Arbeit gebracht habe und so einen fatalen Traum hervorgelockt oder meine Nähte irritiert habe, so dass ich unbemerkt an meinem Auge gerieben hätte.« 23 Barraquer bringt schnell neue Klammern an und warnt Clerambault, das Auge sei nach der Operation äußerst verletzlich. Einer seiner Patienten sei Marineoffizier gewesen, der in seiner Freude über das wiedergewonnene Sehvermögen seine Gesichtsmuskeln so stark angespannt habe, dass die Nähte geplatzt seien - danach sei das Auge verloren gewesen. Ein anderer Patient, ein reicher Amerikaner, sei am sechsten Tag von seiner erleichterten Tochter umarmt worden, der Rand ihres Hutes habe das Auge berührt - Auge verloren.
    Katastrophen wie diese bleiben Clerambault glücklicherweise erspart. Das operierte Auge erholt sich, genau wie das wenige Tage später operierte linke Auge. Wieder zurück in Paris, stellt Clerambault fest, dass es immer noch leichte Abweichungen gibt. Abstände unterschätzt er: Wenn er nach etwas greifen will, muss er sich angewöhnen, seine Hand etwa zehn Zentimeter weiter auszustrecken, als ihm seine Augen signalisieren. Gehsteige befinden sich immer gerade ein wenig weiter entfernt, als er den Fuß setzt. Mit dem rechten Augen sieht er Figuren, die

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