Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
gewisse Ähnlichkeit mit einem Violinschlüssel haben. Jede Farbe scheint einen Blaustich zu haben, ein Effekt, den Barraquer ihm schon prophezeit hatte. Es scheint, als wäre sein Sehkreis über eine Kugel gespannt, so dass auch gerade Linien und Ecken eine Krümmung aufweisen. Wenn er lesen will, muss er den Text unnatürlich dicht vor seine Augen halten. Aber zu seiner großen Erleichterung kann er immerhin wieder lesen und schreiben. »Wir halten unsere Augen für jeden Kollegen verfügbar, der sie untersuchen möchte«, lautet der muntere Schlusssatz. 24 Dieses Angebot hat niemand nutzen können. Der Bericht sollte erst postum erscheinen.
»JE SUIS UN HOMME FINI«
Im Jahr 1919, so erinnert sich ein Freund Clerambaults fünfzehn Jahre später, sei einmal die Rede auf Selbstmord gekommen. Um sich das Leben zu nehmen, müsse man nicht verrückt sein, hatte Clerambault gesagt. »Ich lebe für meine Arbeit und ich liebe die Kunst. Stell dir vor, ich würde blind! Mir bleibt nichts mehr, ich verübe Selbstmord, bin ich dann verrückt?« 25 Clerambaults Leben ähnelte tatsächlich ein wenig einem ästhetischen Projekt. Er war ein leidenschaftlicher Maler, sammelte Kunst und Gewänder, empfing seine Freunde - er ist immer Junggeselle geblieben - gern im Kaftan und reichte Tee aus Minze, die er selbst gezogen hatte. Freunde empfing er einzeln, jeder von ihnen hätte den Eindruck haben können, der einzige zu sein.
Als Clerambault Anfang sechzig ist, macht er sich allmählich Sorgen über seinen wissenschaftlichen Nachlass. Zeit seines Lebens hatte er immer viel notiert und publiziert, aber meist in Form kurzer Aufzeichnungen, Kommentare und Fallbeschreibungen. Genauso verstreut sind die Vorlesungen über forensische Psychiatrie, die er freitags als Chefarzt der Infirmerie gehalten hat, die Leqons de Vendredi. Es wird Zeit für eine Synthese seiner Erkenntnisse. Er beginnt mit dem Redigieren seiner Aufzeichnungen, eine Sekretärin hilft ihm dabei. Die Arbeit geht nur langsam voran. Eines Tages schiebt er die Papiere mit einer missmutigen Handbewegung von sich: »Je suis un homme fini!« 26 Im Laufe des Jahres 1934 sucht ihn ein Leiden nach dem anderen heim. Gelenkentzündungen fesseln ihn monatelang ans Bett. Bis zuletzt versucht er, an seinen Besuchen in der Infirmerie festzuhalten, aber alle anderen Positionen außer Liegen schmerzen. Krank und depressiv, hört er, dass Dr. Brousseau, sein Mitautor bei der ersten Veröffentlichung über Erotomanie und einer der ihm am nächsten stehenden Freunde, einen Ruf in die Provinz angenommen hat und Paris verlassen wird. Seit der Operation in Barcelona kann er keine Tiefe mehr erkennen - ein großer Verlust für den malenden Ästheten, der den Fall von Stofffalten immer so geliebt hat. Er merkt, dass das wiedergewonnene Licht in seinen
Augen allmählich wieder entschwindet, diesmal, das weiß er, für immer.
So könnte ein Film enden. 27 Am Freitagnachmittag, dem 16. November, kommt Clerambault zur Infirmerie, um seine klinische Stunde abzuhalten. Es ist die erste des neuen Semesters, man hat vergessen, bei der Medizinischen Fakultät Ankündigungen aufzuhängen. Der Saal ist nahezu leer. Am nächsten Morgen schreibt er einen gehetzten, verwirrten Brief an Brousseau, gefolgt von einem ebenso wirren, zittrig geschriebenen Testament voller Streichungen. Er spricht über ein Gemälde, das er nicht ehrlich erworben habe und das jetzt sein Gewissen belaste. 28 Seine Fotosammlung hinterlässt er einem ethnographischen Museum. »Ich bin mehr als jeder andere«, schreibt er, »durch den Verlust der Ergebnisse all meiner Arbeit gestraft. Die Dokumente, die ich während meiner vierzigjährigen Tätigkeit gesammelt habe, werden verstreut werden. Wichtige Wahrheiten, die ich aufgespürt habe, werden in Vergessenheit geraten.« 29 Er bittet seine verstorbenen Eltern um Vergebung, seine Freunde und vor allem seine Psychiaterkollegen, die »so oft so leicht verdächtigt werden und gleichzeitig moralisch so erhaben sind«. 30 Danach geht er mit seiner Dienstwaffe, die er aus den Jahren 1914-18 verwahrt hat, in den Garten, sagt seiner Haushälterin, sie solle nicht erschrecken, und löst einige Schüsse. Dann stürmt er die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, schiebt einen Stuhl mit der Lehne gegen den Bettrand, setzt sich aufrecht vor den Spiegel seines Wäscheschranks und nimmt den Lauf des Revolvers in den Mund.
EINE TASSE TEE FÜR DEN DOPPELGÄNGER DAS CAPGRAS-SYNDROM
Eines Junitages
Weitere Kostenlose Bücher