Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
im Jahr 1918 betrat Madame M. eine Pariser Polizeiwache, um zu melden, dass eine Verbrecherbande Kinder entführt habe und sie im Keller ihres Hauses gefangen halte. Sie könne hören, wie sie jammerten und nach ihrer Mutter riefen. Ihrer Aussage nach wurden auch an anderen Orten in Paris im großen Stil Menschen in unterirdischen Räumen festgehalten. Sie fragte, ob zwei Gendarmen mit ihr kommen könnten, um die Gefangenen zu befreien. Madame M. wurde zur >Infirmerie Speciale< gebracht, einer psychiatrischen Auffangstelle für Geisteskranke. Zwei Tage später kam sie in die Anstalt Sainte-Anne und im Frühjahr 1919 wurde sie in eine andere große Pariser Irrenanstalt verlegt, ins Maison-Blanche, wo sie in die Obhut von Joseph Capgras kam.
Dass über den Fall M. viel mehr bekannt werden sollte als über Tausende anderer Menschen, die es in einer so großen Stadt wie Paris mit ähnlichen Wahnvorstellungen in oder außerhalb von Anstalten gab, ist einer besonders bizarren Einzelheit ihres Wahns zu verdanken. Sie erzählte Capgras nämlich, ihr Mann und ihre Tochter seien verschwunden und an ihre Stelle seien nun Doppelgänger getreten. M. bezeichnete sie als >sosies<, Personen, die das genaue Ebenbild eines anderen sind. In der Fallstudie, die Capgras und sein Assistent Reboul-Lachaux 1923 über sie schrieben, übernahm Capgras diese Bezeichnung: M. hatte die >illusion des so-
Das Capgras-Syndrom 267
sies<. 1 Dieses Phänomen, die Wahnvorstellung also, dass nahe Verwandte - der Ehemann, die Ehefrau, Eltern oder Kinder - heimlich durch Doppelgänger ersetzt wurden, ist heute unter dem Namen >Capgras-Syndrom< bekannt.
MATHILDE DE RIO-BRANCO
Madame M. war zum Zeitpunkt der Fallstudie dreiundfünfzig Jahre alt und gelernte Schneiderin. Vier ihrer fünf Kinder waren schon im frühen Kindesalter gestorben; sie selbst war davon überzeugt, dass sie entführt oder vergiftet worden waren. Ihre einzige noch lebende Tochter war jetzt gerade zwanzig Jahre alt. Der Ehemann von M. betrieb einen großen Molkereihandel. Er berichtete Capgras, seine Frau sei nach dem Tod ihrer Zwillinge im Jahr 1906 in Größenwahn verfallen. Im Laufe der Jahre hatten sich in ihren Wahnvorstellungen zwei Themen herauskristallisiert, die Capgras aufgrund der Gespräche und der vielen Briefe, die sie schrieb, genauer bestimmen konnte: Das eine war, dass ihr Vater auf seinem Sterbebett gebeichtet haben sollte, er sei nicht ihr echter Vater, sondern habe sie im Alter von fünfzehn Monaten aus einer reichen Familie entführt. Ihre wahre Mutter sei Mademoiselle de Rio-Branco, direkte Nachfahrin von Henri IV. Madame M. wünschte mit ihrem wahren Namen angesprochen zu werden: Mathilde de Rio-Branco. Sie war die Erbin eines unermesslichen Vermögens: Minen in Argentinien, ganz Rio de Janeiro, fünfundsiebzig Häuser in Frankreich. All diese Besitztümer waren ihr genommen worden - das war das zweite Thema -, und zwar von Feinden, die kein Mittel des Betrugs scheuten. Sie ließen Menschen verschwinden, versuchten, sie zu vergiften, raubten Dokumente, um an ihren Besitz zu kommen, ja, sogar ihre Ehepapiere waren gefäscht, so dass ihr Appartement jetzt von einer Doppelgängerin bewohnt werde.
Entführungen, Verschwinden, Verwechslung - das alles reichte bis weit in ihre Vergangenheit zurück. Eines ihrer Kinder wurde entführt, während es bei einem Kindermädchen war. Das
Kind, das an seiner Stelle zurückkam, starb an Vergiftung. »So war ich bei dem Begräbnis eines Kindes, das nicht das meinige war.« 2 Die Wahnidee von den Doppelgängern hatte während einer Krise im Jahr 1914 begonnen. Eines Tages erkannte Madame M. ihre Tochter nicht mehr. Sie war davon überzeugt, dass jemand ihre Tochter entführt und durch ein anderes Mädchen ersetzt hatte. Auch dieses neue Mädchen war kurze Zeit später ausgetauscht worden, und auf diese Weise hatte eine endlose Reihe von Doppelgängern den Platz ihrer Tochter eingenommen. Man erkannte sie an kleinen Narben im Gesicht, die entstanden waren, als man ihre Gedanken herausgenommen hatte. Auch ihr Mann war durch einen Doppelgänger ausgetauscht worden, bei Gericht hatte sie bereits die Scheidung beantragt.
Die Wahnvorstellungen von Madame M. waren grotesk und zugleich nicht gänzlich realitätsfern. Die Ereignisse im Paris der Jahre 1914-1918 arbeitete sie geschickt in ihre Überzeugungen ein. Die Keller, die sich überall in der Stadt befanden, waren ihr zufolge eine Falle: Wer dort Zuflucht suchte, kam nicht
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