Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
mehr zurück. Die deutschen Jagdbomber schossen mit Platzpatronen, um noch mehr Menschen in die Metro-Schächte und Katakomben zu treiben. Häuser wurden nicht von Bomben zerstört, nein, es geschah absichtlich, um Kinder verschwinden zu lassen. In großen unterirdischen Operationssälen verstümmelte man Menschen. Nach ihrer Freilassung hieß es, sie seien aus dem Krieg zurückgekehrt.
Auch in Maison-Blanche sah Madame M. überall Doppelgänger: von Schwestern, Mitpatienten, Besuchern, Doktoren, Assistenten. Sie warnte die Ärzte: »Sie haben einen Doppelgänger, der all ihre Anweisungen rückgängig macht, um Sie in Verruf zu bringen.« 3 Auch sie selbst hatte Doppelgänger. Sie lockten ihre Besucher weg oder eigneten sich ihre Bestellungen an. Mit jedem Tag erschienen mehr Doppelgänger und Doppelgänger von Doppelgängern. Sie sprach von Banden und ganzen Doppelgänger-Vereinigungen, wie andere von Polizeikorps oder Freimaurerlogen.
Madame M. war eine ruhige Patientin. Arbeit lehnte sie höflich, aber bestimmt ab. Sie geriet nur außer sich, wenn man sie mit
M. statt mit Mademoiselle de Rio-Branco ansprach. Ihre Tage verbrachte sie damit, lange Briefe an die Staatsanwaltschaft, den Senat oder den Kriegsminister zu verfassen. Abgesehen von ihren Wahnvorstellungen war ihr Verhalten nicht weiter auffällig. Ihre geistigen Fähigkeiten waren vollkommen intakt. Auch ausführliche neurologische Untersuchungen brachten keine Abweichungen zutage.
Capgras und Reboul-Lachaux war aufgefallen, dass M. nur Doppelgänger von Menschen sah, die sie kannte, nie von Fremden. Das Problem war auch nicht, dass sie keine Gesichter erkennen konnte: Sie sah immer genau, um wessen Doppelgänger es sich handelte. Auch Ähnlichkeiten nahm sie wahr. Die Störung betraf also nicht das Erkennen, sondern das Identifizieren. Capgras und Reboul-Lachaux zufolge handelte es sich offensichtlich um eine >Identifizierungs-Agnosie<. 4 Wie aber entstand diese Störung? Erkennen, so meinten sie, entstehe dadurch, dass man die Wahrnehmung und die Erinnerung, die zur wahrgenommenen Person gehörten, miteinander verbinde. Die Erinnerung gebe der Wahrnehmung ein Gefühl der Vertrautheit. Die Psychose, an der M. leide, erzeuge ein intensives Gefühl der Entfremdung, was zur Folge habe, dass Nahestehende nicht mehr das Gefühl der Vertrautheit hervorriefen. Für Capgras und Reboul-Lachaux war der Doppelgänger eine Schöpfung der >logique des emotionsc Wenn jemand, den man liebt, nicht mehr die frühere Wärme und die Erinnerungen hervorruft, kann es nicht der Mensch sein, der einem so teuer ist, dann muss es sich um jemanden handeln, der diesem täuschend ähnlich sieht. 5 Der paranoide Argwohn übernimmt den Rest: Die Feinde verschwören sich, um die nächsten Verwandten zu eliminieren und durch Doppelgänger zu ersetzen.
Auf einer Sitzung der Societe Clinique de Medecine Mentale führte Capgras Madame M. vor. Schon beim Eintreten ließ sie ihrem Unmut freien Lauf: Sie sei als Rio-Branco geboren, ihre Großmutter besitze achttausend Millionen Francs, jemand habe ihre Kinder entführt und sie durch Doppelgänger ersetzt. Clerambault, einer von Capgras’ Kollegen, fragte ihn, ob nicht >auditive psychosensorische Phänomene< eine gewisse Rolle spielen könnten, womit er diskret zu bedenken geben wollte, ob sie nicht vielleicht an Halluzinationen leide oder Stimmen höre. Noch ehe Capgras antworten konnte, ergriff Mathilde de Rio-Branco wieder das Wort: »Diese Geräusche sind keine >auditiven Phänomenen sondern Banditen, die sich in den Kellern verstecken!« 6
Jean Marie Joseph Capgras wurde 1873 in Ver-dun-sur-Garonne geboren, einem Dorf im Südwesten Frankreichs. 7 Er verließ das Gymnasium von Montauban mit so guten Noten, dass ihm seine Lehrer nahelegten, sich zur vergleichenden Prüfung der Ecole Normale Superieure anzumelden, der Pariser Elite-Universität. Doch Capgras entschied sich für die Medizin. Seine Assistenzstellen absolvierte er in Toulouse. Ein Neffe, der in Paris in einer Anstalt für Geistesgestörte arbeitete, lotste Capgras in die Psychiatrie. Dieser Disziplin sollte Capgras den Rest seines Lebens in Einrichtungen in der Provinz und Paris treu bleiben. Lange Zeit war er am Maison-Blanche tätig - wo Madame M. aufgenommen worden war - und später in Sainte-Anne.
]ean Marie Joseph Capgras (1873-1950).
Capgras war ein Psychiater der unermüdlichen, neugierigen Art. Er begann seine Runden schon früh am Morgen, damit er sich mehr
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