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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Personen abgebildet.

    EIN DEFILEE VON FRAUEN
    Reichte im neunzehnten Jahrhundert noch die napoleonische Gestalt eines Charcot für die Vergabe von Eponymen wie >Parkin-son-Krankheit<, >Jackson-Epilepsie< oder >Tourette-Syndrom<, wurde die Entscheidung, >Erotomanie< künftig das >De-Cleram-bault-Syndrom< zu nennen, von einem medizinischen Komitee getroffen, das 1935 anlässlich eines psychiatrischen Kongresses zusammengekommen war. Clerambault war sicherlich der produktivste Autor, der über diese Störung geschrieben hat, aber er war nicht der erste. Kraepelin hatte unwesentlich früher von einer Frau berichtet, die im Theater bemerkt hatte, dass der König -diesmal der bayrische - sich beim Eintreten speziell in ihre Richtung verbeugte. Dieser Wahn hatte sich ausgeweitet, bis sie schließlich glaubte, allerlei Details in Kleidung und Konversation bewiesen, dass der König in sie verliebt sei. Kraepelin vermutete, dass der Wahn dazu diente, die Enttäuschungen in ihrem Leben psychologisch zu kompensieren.
    Als Clerambault seine Fallstudien schrieb, hatte der Begriff »Erotomanie« bereits eine lange Geschichte. 12 Von der Antike bis zur Mitte des achtzehnten Jahrhunderts stand Erotomanie für die Krankheit, die durch inständige, aber unbeantwortete Liebe entsteht. Danach verschob sich die Bedeutung zu heutigen Begriffen wie Nymphomanie oder Satyrismus, womit ein extensiver Sexualtrieb gemeint ist. In dem halben Jahrhundert vor Clerambault entwickelte sich die Erotomanie allmählich von einem somatischen zu einem geistigen Leiden. Erotomanie wurde zur Wahnvorstellung, die durch eine unbeantwortete Liebe entsteht, und schließlich zum Wahn, es sei gerade der andere, der verliebt ist. Die Literatur über Erotomanie hat auch nach Clerambaults Veröffentlichungen ihren kasuistischen Charakter behalten. All diese Fallbeschreibungen bilden erneut ein Defilee, anfangs vor allem von Frauen. Sie sind meist vereinsamt, oft arbeitslos. Ihr Wahn gilt Männern in hohen Ämtern oder Berühmtheiten aus Politik, Sport oder Kunst. Auch Ärzte, Pfarrer und Dozenten werden häufig zu Wahnobjekten. Seit den Achtzigerjahren erscheinen in der Fachliteratur mehr und mehr männliche Clerambault-Patienten. Der deutsche Psychiater Brüne hat 246 Fallbeschreibungen gesammelt, die zwischen 1900 und 2000 veröffentlicht worden waren. 13 Darin suchte er nach den Charakteristika von Clerambault-Pa-tienten, aufgeteilt nach Geschlecht. Clerambault-Patienten haben selten selbst einen hohen Status. In der übergroßen Mehrheit sind sie unverheiratet. Diese beiden Merkmale sind zugleich auch in etwa die einzigen, die männliche und weibliche Clerambault-Pa-tienten gemeinsam haben. Bei dem Syndrom sind Frauen mit einem Anteil von 70 Prozent überrepräsentiert. Lediglich etwa 4 Prozent der Frauen kommen durch ihre Störung mit der Justiz in Berührung, bei Männern ist dies mehr als die Hälfte. Bei den Frauen ist das >Liebesobjekt< in drei Vierteln aller Fälle älter als sie selbst, bei Männern ist es genau anders herum. Die sexuelle Anziehungskraft des >Liebesobjekts< scheint bei so gut wie allen Männern eine Rolle zu spielen, bei Frauen nur in der Hälfte aller Fälle.
    Die Theorien über die Ursache des Clerambault-Syndroms füllen das gesamte Spektrum zwischen Psychoanalyse und Hirnschädigung. Der Wahn soll aus der Abwehr gegen den kränkenden Gedanken entstehen, von niemandem geliebt zu werden. Die Fantasie, ein anderer sei in einen verliebt, könne dazu dienen, Einsamkeitsgefühle und Depressionen erträglicher zu machen. Es gibt auch einige Fallbeschreibungen, bei denen möglicherweise neurologische Schäden eine Rolle spielen, auch wenn bis zum heutigen Tag keine deutlichen Verbindungen zu organischen Störungen nachgewiesen werden konnten. 14 Eine neuere Perspektive bietet die evolutionäre Psychologie. Der bereits erwähnte Psychiater Brüne meint, das Clerambault-Syndrom sei eine pathologische Vergrößerung der evolutionär entwickelten >mating-strate-gies< von Männern und Frauen: Frauen suchen einen Partner, der aufgrund von Status und Vermögen zum attraktiven Kandidaten für die Zeugung von Kindern avanciert, Männer suchen eher nach einer jungen, sexuell attraktiven Partnerin. 15 Brünes Sammlung ist jedoch vielleicht nicht wirklich repräsentativ: Männliche Cle-rambault-Patienten können untervertreten sein, weil sie aufgrund ihres Verhaltens häufiger strafrechtlich verfolgt werden und damit nicht in den Blick von Psychiatern

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