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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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für das Clerambault-Syndrom. Bei einem Patienten - einem zweiundfünfzigjäh-rigen Mann - war nur die Hälfte der Kriterien erfüllt.
    Hieraus scheint zu folgen, dass das Clerambault-Syndrom an den Rändern viel zu sehr ausfranst, um als psychiatrische Diagnose brauchbar zu sein. Aber vielleicht ist das eine übereilte Schlussfolgerung. Obwohl lediglich in zwei Fällen alle Kriterien aus der Liste von Ellis und Mellsop zutrafen, repräsentieren diese fünfzehn Fälle als Gruppe unverkennbar den prototypischen Cle-rambault-Patienten - Frau, unverheiratet oder geschieden, unglücklich, arbeitslos, im Wahn, einen hochgestellten Verehrer zu haben. Man kann aus diesen Ergebnissen schließen, wie das Clerambault-Syndrom in der Praxis der psychiatrischen Diagnostik verstanden wird. Als Symptom ist der Wahn, jemand sei in einen verliebt, nicht nur notwendig, sondern auch ausreichend für die Diagnose >Clerambault<. Alle anderen Symptome, Überzeugungen und Eigenschaften können im Prinzip fehlen. Dieser eine Mann von zweiundfünfzig Jahren war vielleicht ein atypischer Fall, aber darum noch nicht kein Clerambault-Patient. Während der Diagnose legen Psychiater fest, wo das Clerambault-Syndrom anfängt und wo es endet, für den Anfang ist der Verliebtheitswahn ausreichend und mit den sonstigen Kriterien konstruieren sie -ohne viel gegenseitige Konsultation - einen Prototypen, in dem wir mühelos Lea-Anna B. und die anderen Patienten Clerambaults wiedererkennen.
    ERINNERUNGEN EINES ARZTES AN EINE OPERATION DES GRAUEN STARS
    Clerambault selbst suchte vergebens nach einem organischen Ursprung des Syndroms. Eine Zeit lang nahm er an, es gäbe eine Beziehung zu bestimmten Augenreflexen, aber wegen gesundheitlicher Probleme konnte er die Hypothese nicht mehr ausarbeiten. Schon seit seiner Jugend litt Clerambault unter Augenbeschwerden. Mit Mitte fünfzig verschlechterte sich sein Sehvermögen so schnell, dass er laut eigener Aussage innerhalb weniger Jahre >halb blind< war. Er beschloss, sich operieren zu lassen. Über die Operation und ihre Folgeerscheinungen schrieb er einen minutiösen Bericht, der wirklich zu einem Monument in den Annalen der Augenheilkunde wurde: »Souvenirs d’un medecin opere de la cataracte«. 20
    Um sein fünfundfünfzigstes Lebensjahr, schrieb Clerambault, waren seine Augen so schlecht geworden, dass er nur kurze Zeit am Stück lesen konnte, gestraft von Schwindel und Kopfschmerzen. In den Jahren danach begann er auch seltsame Formen zu sehen. Vor allem nachts ließen sich die Auswirkungen beobachten: Jeden Lichtpunkt sah er sechs- oder siebenfach, und diese Scheinlichter wiederum bildeten geometrische Muster, verbunden durch leuchtende Fäden. Eine einzige Lampe konnte so die Gestalt eines leuchtenden Seesterns annehmen. Die nächtlichen Lichter der Stadt bekamen durch diese Vervielfachung eine seltsame Schönheit, die Boulevards und Quais hatten fast etwas Märchenhaftes und die Luft selbst schien mit leuchtendem Pulver angereichert. All diese Lichter, losgelöst von Fassaden und Straßenlaternen, machten aus seinem Sehfeld ein sternengesprenkeltes Firmament.
    Weil sich auch die Buchstaben rund um die gedruckten Lettern vervielfältigten, war Lesen fast unmöglich geworden. Erst hatte eine Lupe noch Abhilfe schaffen können und später ein Opernglas, aber schon bald musste man ihm alles vorlesen: Zeitungsberichte, Artikel, Krankenakten. Die Situation wurde unhaltbar. Auf der Straße konnte er Entfernungen nicht mehr gut einschätzen, vor allem die von Autoscheinwerfern. Beim Überqueren der Straße, schrieb Clerambault, suchte er sich jemanden, der kräftig und vernünftig aussah, und ging dann gleichzeitig mit ihm auf die andere Straßenseite. Zu Hause gab es viele Stürze und Zusammenstöße mit Tischen und Stühlen. Kleinere Gegenstände, die er kurz irgendwo ablegte, wie seinen Stift, verschwanden unmittelbar aus seinem Gesichtsfeld und mussten tastend und den Schreibtisch abklopfend wiedergefunden werden. Papiere inmitten anderer Unterlagen wiederzufinden, wurde zur unmöglichen Aufgabe. Zu seiner eigenen Überraschung merkte Clerambault, dass auch das Denken schwieriger wurde. Wenn wir tagträumen und sinnieren, erklärte er, gibt uns die Außenwelt Halt, sei es als Ablenkung, sei es als Mittel, um den Faden unserer Gedanken wieder aufzunehmen. Halb blind ist man ohne Unterbrechung dem unerbittlichen, schnellen Marsch der eigenen Gedanken ausgeliefert. Obwohl er selbst Arzt war, wurde ihm erst

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