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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Zeit für seine Patienten nehmen konnte. Bereits vor Erscheinen der Studie über Madame M. hatte er sich auf dem Gebiet der Wahnvorstellungen einen Namen gemacht. 1909 hatte er mit seinem Kollegen Paul Serieux einen Klassiker zu diesem Thema geschrieben: Les folies raisonnantes. Le delire d’interpretation. 8 Darin identifizierten sie einen »chronischen interpretativen Wahn<, der durch komplexe, aber kohärente Wahnvorstellungen, fehlende Halluzinationen, intaktes geistiges Vermögen und eine allmähliche Ausbreitung gekennzeichnet war. Ihrer Ansicht nach hatten die Patienten keinerlei Aussicht auf Genesung. Bei diesem Wahntypus zieht der Patient seine Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Tatsachen, die er an sich richtig wahrnimmt, jedoch vollkommen falsch interpretiert. Es handelt sich um eine >folie raison-nante<, die Schlussfolgerungen sind logisch, aber verrückt.
    Auch die Wahnvorstellungen von Madame M. trugen Züge einer >folie raisonnante<, unterschieden sich aber durch das Motiv des Doppelgängers von den Wahnideen, die Capgras bisher kennen gelernt hatte. Die von Capgras und Reboul-Lachaux vorgeschlagene Erklärung ähnelt stark einer Hypothese, die erst sechzig Jahre später, in den Achtzigerjahren, im Zusammenhang mit der neurologischen Theoriebildung über Gesichtserkennung formuliert werden sollte. Ironischerweise war Capgras selbst dafür verantwortlich, dass seine eigene Erklärung für lange Zeit aus dem Blick geriet. Ein Jahr nach der ersten Veröffentlichung schrieb er nämlich mit anderen Koautoren noch zwei weitere Artikel über die >illusion des sosies<. 9 Darin erklärte er den Wahn mit Begriffen aus der Psychoanalyse, die sich anschickte, die französische Psychiatrie im Sturm zu erobern. 1929, in dem Jahr, in dem der Psychiater Levy-Valensi vorschlug, die >illusion des sosies< von nun an als >Capgras-Syndrom< zu bezeichnen, interpretierte man den Doppelgängerwahn bereits vollständig im Freudschen Rahmen. 10 Und das sollte etwa ein halbes Jahrhundert so bleiben.
    EINE SEELE, DIE SICH WIEDERFAND
    Nach der Vorführung von Madame M. erklärte einer der anwesenden Psychiater, er habe auch einmal eine solche Patientin gehabt: Sie sei davon überzeugt gewesen, dass ihr Mann durch Doppelgänger ersetzt worden war, und ebenso der Arzt und die Krankenschwestern. Das Capgras-Syndrom trat demnach nicht so selten auf, wie es zunächst den Anschein hatte. Capgras war auch nicht der Erste, der es in einer Fallstudie erwähnte. Bereits 1866 hatte der deutsche Psychiater Karl Kahlbaum einen Patienten beschrieben, der seine Besucher für Betrüger hielt und sich wunderte, dass man für diese Komödie >Statisten< gefunden hatte, die seinen Freunden und Verwandten so täuschend ähnelten. 11 Auch seine Frau hielt er für eine Komparsin, sogar nachdem er sie
    auf Drängen des Anstaltsleiters einer strengen Prüfung unterzogen hatte.
    Lange vor Capgras’ Studie, im Jahre 1908, war bereits die erste >Innenansicht< des Syndroms veröffentlicht worden. Der Amerikaner Clifford Beers beschrieb in seiner Autobiographie A mind that found itself, die 1941 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Eine Seele, die sich wiederfand erschien, eine jahrelange Psychose, die ihn kurz nach der Jahrhundertwende heimgesucht hatte. 12 Er hielt zunächst seinen Bruder und später auch seine Eltern für Doppelgänger. Er fühlte sich von allen verlassen. Auf die Frau zu reagieren, die sich neben sein Bett setzte und sich für seine Mutter ausgab, wäre für ihn einem Verrat gleichgekommen. Zwei Jahre lang weigerte er sich kategorisch, mit seiner Familie zu sprechen. Als er einmal unter Aufsicht einen Tag zu Hause verbrachte, wunderte er sich während des Abendessens, wie exakt der Doppelgänger beim Gebet die Stimme und den Tonfall seines Vaters imitieren konnte. Die Wahnvorstellung verschwand erst, als er einen gerade entlassenen Mitpatienten nachforschen ließ, ob seine Familie noch an der alten Adresse wohnte. Da das offensichtlich der Fall war, schrieb Clifford seinem Bruder George einen Brief, in dem er ihm erklärte, er habe am vergangenen Mittwoch Besuch von jemandem bekommen, der sich für ihn ausgegeben habe. Der Brief sollte als eine Art Ausweis dienen: Wenn George ihn bei seinem nächsten Besuch mitbringe, wisse er, dass er wirklich sein Bruder sei. Habe der Besucher keinen Brief dabei, sei klar, dass es sich um einen Doppelgänger handle, und dann werde Clifford ihm ; unmissverständlich deutlich machen, was er

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