Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
von diesem Betrug halte. Einige Tage später sah Clifford, wie der Doppelgänger seines Bruders zum Tor hereinkam. Er lief ihm entgegen und war gespannt, welche Lügen er ihm diesmal auftischen würde. Doch dieser zog den besagten Brief aus einer Lederbörse.
»Hier ist mein Ausweis,« sagte er.
»Gottseidank, dass du ihn gebracht hast«, antwortete ich, als ich das Papier mit dem Blick streifte und nochmals die Hand meines Bruders schüttelte, diesmal jedoch die Hand meines wirk-j liehen Bruders.
»Möchtest du ihn nicht lesen?«
»Das ist nicht nötig, ich bin überzeugt.« 13
Von diesem Moment an, schrieb Clifford Beers, habe er sich gefühlt, als hätte er seine Seele wiedergefunden. »Ein großer Teil meiner alten Welt ward mir zurückgegeben.« 14 Für den Rest seines Lebens betrachtete Beers den 30. August 1902 als seinen zweiten Geburtstag.
Einer der rätselhaften Aspekte in der frühen Fachliteratur über das Capgras-Syndrom ist, dass man so lange meinte, die Störung betreffe ausschließlich Frauen. Aktuellen Zahlen zufolge gibt es zwar etwa doppelt so viele Frauen wie Männer, die an dem Syndrom leiden, aber dass nach Capgras gut zehn Jahre lang überhaupt keine männlichen Patienten beschrieben wurden, ist merkwürdig. Vielleicht war es reiner Zufall, dass es sich bei den beschriebenen Patienten aus den Capgras-Kreisen um Frauen handelte, so dass man mit den Eigenschaften des Syndroms zu Unrecht Frauen verband. Vielleicht aber hatte auch der Umschwung zur psychoanalytischen Interpretation etwas damit zu tun oder die vorherrschende Meinung, manche psychiatrischen Störungen (wie Hysterie zum Beispiel) seien eben typische Frauenleiden. Der Psychiater Murray präsentierte 1936 »a case of Capgras syndrome in the male«, den ersten seiner Art. Er hielt den Fall für einer Erwähnung in der Fachpresse wert, auch wenn er in seinem Artikel auf latente Homosexualität anspielte. 15 Ab den Vierzigerjahren wurden mehr Männer mit dem Capgras-Syndrom beschrieben. 16
Bei einer Zusammenkunft der Gesellschaft, der Capgras im Jahr 1923 Madame M. vorgeführt hatte, präsentierten die Psychiater Courbon und Fail 1927 den Fall einer Patientin, deren Wahnvorstellungen Gemeinsamkeiten mit dem Capgras-Syndrom aufzuweisen schien. 17 Diese siebenundzwanzigjährige Frau war eine Theaterliebhaberin. Sie war davon überzeugt, dass sie von den Schauspielerinnen Sarah Bernhardt und Robine verfolgt wurde, indem diese sich einer endlosen Reihe von Verkleidungen bedienten oder das Äußere von Leuten aus ihrer unmittelbaren Umgebung annahmen. Robine zum Beispiel erschien regelmäßig in Gestalt verschiedener Nachbarn. Als die Patientin auf der Straße über
eine Frau herfiel, die sie für Robine hielt, wurde sie in die Anstalt eingeliefert. Auf der Station erklärte sie, Robine und Bernhardt würden sie in der Gestalt von Krankenschwestern zur Masturbation zwingen. Courbon und Fail schlugen vor, dieses Syndrom nach Leopoldo Fregoli zu benennen, einem gefeierten italienischen Nachahmungskünstler. Patienten, die am Fregoli-Syndrom leiden,
I leben in dem Wahn, dass ihre Verfolger die Gestalt von Bekannten I aus ihrer nächsten Umgebung annehmen, d. h. von Verwandten, Nachbarn, Freunden. Unter den Patienten mit Fregoli-Syndrom i sind gerade Männer überrepräsentiert. 1932 beschrieben Courbon | und Tusques vor der Gesellschaft noch einen dritten Wahntypus, j den der >Intermetamorphose<, bei dem der Patient davon über- 1 zeugt ist, dass sich bekannte Personen aus seinem Umfeld willkür-| lieh ineinander verändern können. 18
So erschienen in der französischen Psychiatrie in weniger als zehn Jahren, zwischen 1923 und 1932, drei Fallstudien, welche die : wichtigsten Subtypen eines Syndroms identifizierten, das heute als >Delusional misidentification< bekannt ist. 19 Unter diesen drei Typen kommt das Capgras-Syndrom am häufigsten vor, die anderen beiden treten äußerst selten auf.
EIN ZUSÄTZLICHES TEEGEDECK
i Die Veröffentlichungen zum Capgras-Syndrom sind noch immer sehr kasuistisch. Die Zahl der beschriebenen Fälle geht mittlerweile in die Hunderte. 20 Dabei trägt jeder einzelne Fall zum allgemeinen Profil des Syndroms bei, wie Pinseltupfen bei einem pointillistischen Gemälde. Bei den meisten Capgras-Wahnideen glaubt der Patient, dass der Doppelgänger ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, doch es gibt auch Varianten, bei denen der Patient meint, seine Verwandten seien durch Roboter oder - aktueller -durch Aliens
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