Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
sollte ein Herzinfarkt oder Schlaganfall das Erkennen von Gesichtern
naher Verwandter beeinträchtigen können, nicht aber das anderer Personen? Wahrscheinlicher war es, die Ursache in einer Störung des emotionalen Haushalts des Patienten zu suchen. In den Achtzigerjahren verschob sich dieses Muster allmählich. Dass das Capgras-Syndrom auch akut durch eine Hirnverletzung nach einem Unfall auftreten kann, durch abgeklemmte Blutgefäße oder einen Schlaganfall, ist schwerlich mit einer Erklärung in affektiven Begriffen in Einklang zu bringen. Die Zahl der Capgras-Fälle mit nachweislich organischen Störungen nahm schnell zu, was teilweise auf neue diagnostische Instrumente wie bildgebende Techniken zurückgeführt werden kann. Entscheidender aber ist, dass die neu einsetzende organische Perspektive in der Psychiatrie dazu einlud, aktiv nach physiologischen oder neurologischen Störungen zu suchen. Immer häufiger betrachtete man das Capgras-Syndrom als eine Störung mit organischem Hintergrund, was nicht die Folge einer Häufung neu entdeckter organischer Faktoren war, sondern eher umgekehrt: Aufgrund der neuen organischen Perspektive entdeckte man immer mehr dieser Faktoren.
Dieser Wandel lässt sich am Austausch von Vorder- und Hintergrund ablesen. Früher wertete man die psychiatrischen Leiden als primär und die eventuelle organische Störung als Begleiterscheinung; gegenwärtig wird in vielen Fällen eine organische Abweichung spezifiziert oder man vermutet zumindest, dass eine solche vorliegt, die jedoch mit heutigen Instrumenten noch nicht erkannt werden kann. Das default für das Capgras-Syndrom ist nun eine organische Ursache. Aus diesem Grund ist die Liste der mit Capgras assoziierten Abweichungen und Schäden lang und vielfältig: Epilepsie, Gehirntumor, MS, Parkinson, Alkoholismus, bei Männern ein zusätzliches Y-Chromosom, Migräne, Elektroschocks, Drogenmissbrauch. 25 Bei etwa zehn Prozent der Patienten mit Alzheimer treten capgrasartige Symptome auf, wodurch Nahestehende zu ihrem Kummer als Betrüger behandelt werden. 26
Die zurzeit wichtigsten Theorien drehen sich um die Neurologie der Gesichtserkennung. Der amerikanische Neurologe Anthony Joseph präsentierte 1986 eine einleuchtende Erklärung, die sich in Befunde der >split brain<-Forschung einfügt. 27 Bei schwer zu behandelnder Epilepsie wird manchmal der Balken durchtrennt, jenes Band aus Nervengewebe, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet. Damit ist zwischen der linken und der rechten Hemisphäre keine Kommunikation mehr möglich. Dieser Eingriff eröffnet die Möglichkeit, Spezialisierungsmuster im Gehirn zu untersuchen, wobei man festgestellt hat, dass die rechte Gehirnhälfte zum überwiegenden Teil an der Gesichtserkennung beteiligt ist. Nach Joseph entwickeln beide Hemisphären jeweils eine eigene Repräsentation des wahrgenommenen Gesichts, die bei einem gesunden Gehirn mit funktionierender Kommunikation zwischen rechts und links zu einer einzigen Vorstellung verschmelzen. Wenn nun allerdings aufgrund eines organischen Schadens die Kommunikation zwischen beiden Gehirnhälften gestört ist, muss der Patient mit zwei Repräsentationen arbeiten, die er miteinander nicht in Einklang bringen kann und die ihm das Gefühl geben, das Gesicht zu erkennen und gleichzeitig doch nicht. Sein Gehirn löst diesen Konflikt für ihn: Er wird einfach den Eindruck nicht los, dass er es mit einem Doppelgänger zu tun hat. Gerade weil ihm das Endprodukt der Gesichtserkennung vorenthalten wird und er - nahezu wörtlich - mit einem neuronalen Halbprodukt operieren muss, nimmt der Capgras-Patient nur einen schwachen Abglanz der getrennten Aktivitäten seiner beiden Hemisphären wahr.
Eine Möglichkeit zur Überprüfung dieser Hypothese bot sich bei der Untersuchung einer anderen seltenen neurologischen Abweichung: Prosopagnosie, die Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen. Oliver Sacks beschreibt in Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte einen Prosopagnostiker, der mit ausgestreckter Hand auf eine Standuhr zulief und auf der Straße liebevoll Parkuhren tätschelte, am Ende der Sitzung aber den Kopf seiner Frau ergriff und ihn sich aufzusetzen versuchte. 28 Lange ging man davon aus, das Capgras-Syndrom könne nichts mit Prosopagnosie zu tun haben, weil Capgras-Patienten keine Schwierigkeiten damit haben, Gesichter im Allgemeinen zu erkennen, und selbst bei denjenigen, die sie für einen Doppelgänger halten, die Ähnlichkeit mit der
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