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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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ersetzt worden. Manchmal ist der Patient selbst Teil des Doppergängerwahns: Er glaubt, auch von ihm gebe es einen Doppelgänger oder er selbst sei sogar ein solcher Betrüger. Capgras’ Madame M. war davon überzeugt, ihre eigene Doppelgängerin wohne nun in ihrem Appartement. Capgras-Patienten reagieren ganz unterschiedlich auf die Doppelgänger. Eine ältere Frau weinte immer leise über den Verlust ihres Mannes. Eine andere Frau akzeptierte gelassen, dass sie es mit einem Doppelgänger zu tun hatte. Sie schenkte künftig drei Tassen Tee ein: eine für sich selbst, eine für den Doppelgänger und eine für ihren Ehemann, für den Fall, dass dieser zurückkäme. Machte das Paar einen Spaziergang, huschte sie noch einmal ins Haus zurück, um ihrem Mann eine Nachricht zu hinterlassen. Eine andere Patientin war sich sicher, dass ihre Tochter durch eine Doppelgängerin ersetzt worden war; weil sie sich aber mit dieser Doppelgängerin gut verstand, unterließ sie es, sie mit dem Betrug zu konfrontieren. In den meisten Fällen jedoch herrschten Trauer und Sorge über das Schicksal der verschwundenen Angehörigen. Sind sie verjagt worden, vergiftet, ermordet? Hält man sie irgendwo gefangen? Kommen sie jemals wieder zurück? Es gibt Patienten, die bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgeben. Eine andere Frau zog Trauerkleidung an und bezeichnete sich in der Anamnese als Witwe. Viele Patienten meinen, der Doppelgänger müsse selbstverständlich mehr über das Verschwinden wissen, oder bezichtigen ihn regelrecht des Mordes. In ihrem paranoiden Gedankengang erwarten sie sogar manchmal, selbst das nächste Opfer zu werden. Müssen sie nicht den Übeltäter aus dem Weg schaffen, ehe es zu spät ist? Der Doppelgängerstatus ist nicht ungefährlich. Ein Capgras-Patient in Missouri dachte, sein Stiefvater sei durch einen Alien ersetzt worden. Er enthauptete ihn, um die Batterien und Mikrofilme zu suchen. 21 Es gibt zahlreiche Dokumentationen über Capgras-Patienten, die den Doppelgängern infolge ihrer Wahnideen an die Gurgel gegangen sind. 22 Meist hat der Wahn dann schon eine lange Geschichte, die Morde sind gut durchdacht und nach einem Plan ausgeführt, der beweist, dass die geistigen Fähigkeiten der Patienten noch intakt sind.
    Die psychoanalytischen Erklärungen, die Capgras 1924 selbst einführte, bewegten sich innerhalb der Grenzen, die Freud gezogen hatte. Das Capgras-Syndrom sei ein Abwehrmechanismus, so hieß es, um die inzestuösen Gefühle der Patientin für den Vater zu
    verbergen. Der Wunsch sei so verboten, so unzulässig, er könne nicht wirklich dem Vater gelten - also könne es auch nicht der wirkliche Vater sein. Als Zweites brachte man vor, die ambivalenten Gefühle - neben Liebe auch Hass -, welche die Patientin gegenüber ihren Nächsten hegte, führten zu unerträglichen Schuldgefühlen. Die einzige mögliche Lösung sei die Spaltung des Objekts dieser Gefühle, wonach alle Hassgefühle auf den Doppelgänger projiziert würden. Das sei auch der Grund für die Idealisierung der verschwundenen Lieben und die große Aggressivität gegenüber den Doppelgängern. Manchmal bestätigte gerade ihre Zwangseinlieferung in die Anstalt der Patientin die Richtigkeit ihrer Wahnvorstellung: Ihr eigener Mann oder ihre eigenen Kinder hätten sie niemals einsperren lassen. Durch diese Projektion reinen Hasses schwebte der Doppelgänger in reeller Gefahr. Abwehr, Projektion und Ersatzhandlungen waren lange Zeit die wichtigsten Mechanismen, die man bei Capgras-Patienten am Werke sah, vor allem bei französischen Patienten, denn die Psychoanalyse hatte sich mittlerweile vollkommen der französischen Psychiatrie bemächtigt. Bis in die Siebzigerjahre gab es neben psychoanalytischen nur sehr wenige andere Erklärungen. 23
    DIE ÜBERFAHRT
    In den letzten zwanzig Jahren hat das Capgras-Syndrom eine Überfahrt von der Psychiatrie zur Neurologie angetreten. Bis zum Ende der Siebzigerjahre gehörten die Symptome in der Regel zur psychiatrischen Diagnostik, hauptsächlich der paranoiden Schizophrenie. Organische Störungen wurden kaum beachtet, und wenn doch, galt es als Zufall, dass Schizophrenie und die neuro- i logische Abweichung gemeinsam auftraten. 24 Es gab auch einen guten Grund, organischen Erklärungen zu misstrauen: Der Wahn der Capgras-Patienten richtet sich vor allem auf Menschen, mit denen sie ein affektives Band verbindet. Neurologische Schäden können unmöglich zu einer solchen Selektivität führen. Wie

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