Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Geschäftsmanns in Erinnerung ruft, der sich nicht von dem Gedanken lösen konnte, irgendwo in Moskau läge die Leiche eines verstorbenen Freundes, Jacksons Beschreibung von >Dr. Z.< und seinem Traumzustand oder die »Bekenntnisse eines Tiqueurs< von Meige und Feindei, erkennt, was damit aus der medizinischen Wissenschaft verschwunden ist: die Erfahrung des Patienten. Parkinson, Broca, Jackson, Korsakow, Gilles de la Tourette, Alzheimer, Clerambault, Capgras und Asperger waren praktizierende Ärzte, und in ihren Berichten schwingt auch immer wieder mit, was es für den Patienten bedeutet, an der beschriebenen Störung zu leiden. Krankengeschichten, die der »Innenansicht einer Krankheit entsprechen, dem subjektiven Erleben, sind eine verloren gegangene Kunst, wie der russische Neuropsychologe Luria einmal an Oliver Sacks schrieb. Sie werden jetzt mit »romantischer Wissenschaft assoziiert, einem Genre, das sich vor allem außerhalb der medizinischen Wissenschaft großer Beliebtheit erfreut. Würden individuelle Patienten in medizinischen Artikeln aufgeführt, schreiben Meulenberg und Oderwald, geschehe dies in so objektivierender Weise, dass sich der Leser fragen könne, ob es überhaupt einen Sinn habe: So entstehe eine Art bereinigte Geschichte über Frau A. mit wissenschaftlichem Anstrich, wodurch man aber gleichzeitig die Frage stellen könne, warum sie so nachdrücklich als die Geschichte von Frau A. präsentiert werde. 12
Dass Krankengeschichten, die sich auf das Erleben der Krankheit richten, an den Rand der medizinischen Literatur gedrängt wurden, bedeutet nicht, dass sie verschwunden sind. Inzwischen haben sie jedoch andere Autoren. Bernlef hat mit Hersenschim-men (1984) (auf Deutsch 1986 als Hirngespinste erschienen) den Versuch gemacht, sich in den Geist eines Alzheimer-Patienten mit beginnender Alzheimer-Krankheit zu versetzen. Der Ich-Erzähler in Scar tissue (1993) von Michael Ignatieff (auf Deutsch 1998 erschienen als Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs ) hat eine Mutter, welche die ersten Anzeichen von Demenz aufweist und das selbst erkennt. Die Hauptperson von The suspect (2003), einem Thriller von Michael Robotham, leidet an der Parkinson-Krankheit, und durch sie beginnt der Leser zu spüren, wie es sein muss, in einem immer steiferen und trägeren Körper zu leben und im Spiegel in ein versteinertes Gesicht zu starren. Mark Haddon hat mit The Curious Incident of the Dog in the Night-Time (deutsch: Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone (2003)) die Gedankenwelt eines Jungen mit dem Asperger-Syndrom beschrieben, demselben Syndrom, an dem Stefan Brijs die Hauptperson von De engelenmaker (2005) (auf Deutsch 2007 erschienen als Der Engelmacher ) leiden lässt. Der Ich-Erzähler in Motherless Brooklyn (1999) von Jonathan Lethem (2001 unter demselben Titel auf Deutsch erschienen) heißt Lionel Essrog, mit Spitznamen >freakshow<. Er ist Privatdetektiv und leidet am Tourette-Syndrom, was ausgesprochen lästig ist, wenn man jemanden unauffällig beschatten will. Besser als jede medizinische Studie vermittelt Lionels Introspektion einen Eindruck von der Hektik im Denken, Handeln und Erleben eines Tourette-Pa-tienten. Schriftsteller sind schon sehr lange fasziniert von Menschen, deren Geist auf Abwege geraten ist - für Guy de Maupassant ein Grund, Charcots Leqons du Mardi beizuwohnen - und sie haben dieser Faszination auch in ihrem Werk Ausdruck verliehen; heutzutage aber scheint wirklich jede Störung ihr literarisches Sprachrohr zu haben.
Diese »literarischen Krankengeschichten« sind nicht losgelöst von den Erkenntnissen, die in der Neurologie oder Psychiatrie gesammelt wurden, weshalb sie manchmal zu überraschenden Spiegeln der zu bestimmten Zeiten akzeptierten Anschauungen werden. Georges Simenon schrieb 1938 die Maigret-Geschichte Monsieur Lundi (deutsch: Herr Montag). Die Intrige drehte sich um eine ältere, unverheiratete Frau, die am Clerambault-Syn-drom litt: sie glaubte, ihr Arzt sei in sie verliebt. Auch in Enduring love (1997) (deutsch: Liebeswahn, 1998) von Ian McEwan ist eine der Personen ein Clerambault-Patient: der arbeitslose und dem religiösen Wahn verfallene Jed Parry. Er ist davon überzeugt, dass der Wissenschaftsjournalist Joe Rose in ihn verliebt ist, und beginnt ihn zu stalken. Diese zwei Patienten charakterisieren zwei verschiedene Episoden im Denken über das Clerambault-Syn-drom. In der Psychiatrie von 1938 war der prototypische
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