Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
konnten: Diese Asymmetrie war bei Weißen häufiger zu finden als bei Schwarzen, bei Männern mehr als bei Frauen, bei Wohlhabenden mehr als bei Armen, bei Stadtbewohnern häufiger als bei Landbewohnern. Asymmetrie war nicht neutral: links war überlegen. Die funktionellen Eigenschaften der linken Hemisphäre - logisches Denken, Beherrschung, Willensstärke - machten daraus die >männliche< Hemisphäre, die >weibliche< rechte Hemisphäre wurde zum Sitz von Intuition und Leidenschaft, aber auch von Impulsivität und Labilität. Bei dieser Verteilung der Eigenschaften war es unvermeidlich, dass der linken Hemisphäre die Leitung zugesprochen wurde, wie es auch dem natürlichen Zustand in der Ehe zwischen Mann und Frau entsprach. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatten >Asymmetrie< und >links< eine Art Zangenbewegung ausgeführt, wodurch der denkende, weiße, kultivierte Mann die selbstverständlich dominierende Kraft über alles war, was mit >rechts< oder >symmetrisch< assoziiert wurde. Unter den vielen Broca-Epigo-nen, die versucht haben, die neuropolitischen Verhältnisse mit den unterschiedlichsten Arten von >Beweisen< zu stützen, befand sich ein gewisser Delaunay. Was Harrington über dessen Untersuchung sagt, gilt genauso gut für seine Zeitgenossen: »Vollkommen ruhigen Gewissens brachte er sein Werk als Opfer auf dem Altar der uneigennützigen Wissenschaft dar - und es wurde angenommen, weil es ein Weltbild heiligte, das so tief im Bewusstsein des späten neunzehnten Jahrhunderts wurzelte, dass sein ideologischer Charakter eigentlich unsichtbar geworden war.« 16
Während im Verständnis des Historikers schon eine Entschuldigung liegt, hat Gould, wie wir sahen, wenig Geduld damit. Für ihn ist Broca die bete noire der französischen Neurologie, vor allem, wie im Broca-Kapitel gezeigt, durch den unverträglichen Kontrast zwischen seinem Ruf als objektiver, unparteiischer und -in politischer Hinsicht - reformfreudiger Forscher und der Realität eines sexistischen, rassistischen, französisch-chauvinistischen und mit seinen Fakten schummelnden Pseudowissenschaftlers. Die exakte Messung, für Broca die beste Gewähr gegen Vorurteile, erst recht, wenn diese Messung einem Instrument überlassen werden konnte, wertet Gould gerade als Teil seiner perfiden Rhetorik: All diese Zahlen und Instrumente erweckten den Schein von Objektivität, doch in Wirklichkeit handele es sich um Brocas persönliche Vorurteile und die des begüterten Bürgertums, dem er angehörte. 17 Er unterzog sie keiner Prüfung, er reproduzierte sie.
Was ist hieraus zu lernen? Der Tenor von Harringtons Analyse lautet, dass Überzeugungen, die von großen Kreisen geteilt werden, dazu neigen, die Wissenschaft dieser Zeit mehr oder weniger zu absorbieren, mit Befunden, Methoden, Interpretationen und anderem. Dieser Auffassung nach wird auf diese Weise wissenschaftlichen Ergebnissen ein Bett bereitet, in das die Resultate wie von selbst fließen. Neue Erkenntnisse werden dieses Bett nicht verlagern, sondern tiefer auswaschen. Für Gould steht Wissenschaft ideologischen Interpretationen entgegen. Wissenschaft soll Vorurteile korrigieren, widerlegen, ausrotten. Dazu muss Wissenschaft so rein und exakt wie möglich ausgeübt werden. Stärker: Hätte Broca ein paar elementare methodologische Vorkehrungen getroffen, wäre er nicht zu seinen absurden Ergebnissen gelangt. Er hätte Hirn und Schädel ohne Vorwissen über ihre Herkunft messen müssen. Er hätte mit statistischen Tests Zufälle korrigieren und Kontrollgrup-pen verwenden müssen. Und er hätte seine Ergebnisse Vorhersagen müssen, damit sie nicht durch »Korrekturen« nachträglich noch seinen Hypothesen hätten angepasst werden können.
1961, exakt hundert Jahre nachdem Broca in der Societe d’Anthropologie das Gehirn von »Monsieur Tan< hochgehalten hatte, veröffentlichte der Neuropsychologe Roger Sperry in Science einen Artikel über chirurgisch voneinander getrennte Hirnhälften. 18 Die Technik beruhte auf dem Durchschneiden des Balkens (corpus callosum), dem dicken Nervengewebebündel, das beide Hemisphären unten im Hirn miteinander verbindet. Die ersten Experimente Sperrys mit >split brains« waren noch an Tieren durchgeführt worden, aber in den Jahren danach führten seine Schüler Gazzaniga und Bogen bei Patienten mit schwerer, unbehandelbarer Epilepsie dieselbe Operation durch, und so erhielt man eine wirksame, neue Methode zur Untersuchung funktioneller Unterschiede zwischen
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