Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Hintergrund, vor dem diese Fakten eine Bedeutung hatten, nicht mehr gibt. Die >Affenspalte<, die Brodmann im Gehirn von drei Javanern fand, hatte nur eine Bedeutung in einer Denkwelt, die »primitive Rassen< irgendwo zwischen Menschen und Affen ansiedelte. Brocas Behauptung, das Gehirn eines Hundes sei asymmetrischer als das eines Fuchses, verdankte ihre Glaubwürdigkeit der mittlerweile aufgegebenen Theorie, Abrichtung führe zu Asymmetrie und diese Asymmetrie sei erblich.
Manche Theorien haben einen so großen und dauerhaften Einfluss auf Wissenschaft und Gesellschaft, dass sie den Charakter einer Ideologie annehmen - gestützt von Befunden, die vor allem aus ihr folgen. Morels Theorie der Degeneration und der progressiven Zersetzung des genetischen Materials hat eine ganze Reihe von >Tatsachen< erzeugt, die zusammen mit der Degenerationstheorie auch wieder verschwanden. Kinder mit Tics stammten nach Gilles de la Tourette aus Familien, die neuropathologische Symptome von Degeneration aufwiesen: einen stotternden Bruder, eine bizarre Tante, eine Oma mit Asthma. Tiqueurs seien Menschen mit einem schwachen Willen, schrieben Meige und Feindei; Degeneration habe ihre Fähigkeit angegriffen, die Impulse zu beherrschen. Manche Menschen ließen sich in der Hoffnung auf Sozialleistungen gern für arbeitsunfähig erklären, dachte Alzheimer; vor allem »Degenerierte, Psychopathen oder Minderwertige< seien anfällig für diese >Rentenneurose<, also »Kinder von Epileptikern, Verbrechern oder Alkoholikern<. Dass es sich bei den Seidendiebinnen, die Clerambault befragte, allesamt um degenerierte Frauen handelte, verstand sich von selbst. Es zeigte sich in ihrem Verhalten und ansonsten in ihrer Herkunft: Da gab es eine Oma, die verrückt gestorben war, oder einen Neffen, der masturbierte. Noch 1944 schrieb Asperger in den verschleierten Begriffen, die zu einer Theorie passen, deren extreme und verbrecherische Konsequenzen so sichtbar geworden waren, dass seine »schwierigen Rinden an degenerierten Adel denken ließen und häufig der letzte Spross in Familien waren, in denen sich Genialität und Wahnsinn in einem labilen Gleichgewicht hielten.
Auch die Psychoanalyse und die darin geäußerten Theorien über Hysterie haben lange ihre eigenen Fakten erzeugt. Dass Bon-net-Bilder von Menschen gesehen werden, die sich infolge von Regression nach der sicheren, kleinen Welt zurücksehnen, die sie als Kind gekannt haben, passt in die Theorie, dass das Ego eine Kompensation für Verlust im Alter sucht. Dass das Doppelgängersyndrom von Capgras sehr lange eine weibliche Störung blieb, war die Folge der damaligen Interpretation von Hysterie als Frauenleiden. Das Auftreten des männlichen Capgras-Patienten war ein Zeichen der abnehmenden Vitalität der psychoanalytischen Perspektive, aber auch der gleichzeitigen Wende zu einer neurologischen Erklärung, die nicht mehr speziell für Frauen gelten konnte. Die >Eis-Mütter< autistischer Kinder, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in so vielen Untersuchungen angetroffen wurden, sind gleichzeitig mit dem Widerstand gegen die Unabhängigkeit von Frauen in den Hintergrund getreten. All diese Fakten, Erkenntnisse und Ergebnisse, ob sie nun durch Beobachtung oder Messung gesammelt worden waren, verschwanden nicht durch neue Analysen, sondern aufgrund der Desintegration der Theorien, denen sie ihre Entstehung verdankten.
DIE GEFÜGIGKEIT VON FAKTEN
Für denjenigen, der glaubt, historisches Bewusstsein, Methodologie, gesunder Menschenverstand, kollegiale Aufsicht und andere korrigierende Faktoren hätten inzwischen wohl zu einer heilsamen Mäßigung der ideologischen Abhängigkeit von Tatsachen geführt, ist kein Fall so lehrreich wie die frühere und heutige Analyse des Verhältnisses zwischen den beiden Hemisphären.
Dass in der linken und der rechten Hirnhälfte verschiedene Funktionen repräsentiert sein können, wurde in den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts zum ersten Mal ins Spiel gebracht und in den Sechzigerjahren durch Brocas Autopsien bestätigt. Nach Broca entwickelte sich die Asymmetrie zwischen beiden Hirnhälften durch Unterricht und Bildung, also durch das, was Kultur - je nach Individuum und Generation - dem natürlichen Zustand hinzufügt. Damit war Asymmetrie zum Maß für Zivilisation geworden. Neurologen verfügten nun über ein Instrument, mit dem sie eine ganze Reihe objektiver, wissenschaftlich begründeter Hierarchien errichten
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