Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
einige Male daran erinnern, dass er das Bonnet-Syndrom eingeführt und ihm eine wohlumschriebene Bedeutung gegeben hatte, und dass man nicht ungestraft die diagnostischen Kriterien ändern konnte. Sein Interesse war klar: Mit anderen Kriterien wäre es nicht mehr >sein< Syndrom gewesen. Wing wurde mit demselben Problem konfrontiert. Die Kriterien, die das DSM-IV handhabt, neigen dazu, das Asperger-Syndrom in der Diagnose »autistische Störung< aufgehen zu lassen, laut einigen
Wissenschaftlern so radikal, dass die Frage berechtigt ist, ob die Jungen, die Asperger selbst beschrieb, eigentlich wirklich >Asper-ger< hatten. In einem Rückblick darauf, welche Konsequenzen die Veröffentlichung ihres Artikels über das Asperger-Syndrom hatte - wie etwa zwei Publikationen über dieses Syndrom im Jahre 1981 gegenüber 126 im Jahr 2003 -, schreibt Wing, dass die Kriterien von DSM-IV von allen Vorschlägen am wenigsten mit denen von Asperger selbst übereinstimmten. 5 Mit den Grenzen des Syndroms steht auch die Position desjenigen zur Diskussion, der das Eponym vorgeschlagen hat, und das erfordert eine wachsame Beobachtung.
Moderne Historiker denken nicht gern in Begriffen wie >Ursa-chen<. Ursachen sind aus Eisen. Wer damit arbeiten will, braucht einen Amboss, um seine Erklärungen in Form zu hämmern. Zum Glück steht jedoch auch handlicheres Material zur Verfügung: >Faktoren<. Und davon gibt es auch gleich eine ganze Menge: latente und manifeste Faktoren, dominante und untergeordnete, unverzichtbare und begleitende. Faktoren können etwas auslösen, erleichtern, sie können intervenieren, schlichten und sogar, wenn sie den letzten Anstoß geben, präzipitieren. Mit Faktoren kann man weben. Wer versucht, die Prozesse zu beschreiben, die bei Eponymen eine Rolle spielen - nicht nur die Entdeckung, die Zuerkennung und die Akzeptanz, sondern auch den Aufschub der Akzeptanz (Asperger), das vorübergehende Verschwinden (Gilles de la Tourette) oder die Wiedereinführung (Alzheimer) -, landet von selbst bei den Erklärungen, die aus Faktoren gewebt wurden. Ein Faktor, den man bei Eponymen intuitiv als unverzichtbar betrachten würde, erweist sich bei näherer Betrachtung im besten Fall als Begleitumstand: die Priorität.
STIGLERS GESETZ
Die russische Neurologin Dr. Ewa Ssucharewa war als wissenschaftliche Assistentin an der Sanatoriumsschule tätig, die zur Psychoneurologischen Kinderklinik in Moskau gehörte. Bei den
Kindern, die dort - manchmal jahrelang - unter Beobachtung standen, gab es sechs, die sich von anderen Kindern unterschieden und untereinander so viel gemein hatten, dass sie eine spezielle Störung zu repräsentieren schienen. Die Störung nannte sie »schizoide Persönlichkeit^ Ihre Analyse der sechs Fälle, allesamt Jungen, wurde in einer führenden deutschen neuropsychiatrischen Zeitschrift veröffentlicht. 6
Alle sechs waren »autistisch eingestellte Sie spielten nie mit anderen Kindern und lebten lieber in ihrer eigenen Fantasiewelt. Drei Jungen waren aufgrund ihres seltsamen Verhaltens das natürliche Ziel von Hänseleien. Ihr Sprachgebrauch war frühreif, aber auch ein wenig pedantisch. Sie spielten gern mit dem Klang von Wörtern, beispielsweise durch Wortwiederholungen oder Reime. Auffällig war ihre Impulsivität. Einer der Jungen konnte ohne jeglichen Anlass zu einem anderen Kind laufen und es schlagen, ein zweiter Junge hatte einfach so ein Kind ins Wasser gestoßen. Ihre Interessen waren bizarr und monoman, so erzählte einer der Jungen endlose Geschichten über den französischen Feldzug gegen Russland im Jahre 1812. Obwohl alle sechs intelligenter waren als der Durchschnitt, hatten sie ausnahmslos Lernpro-bleme. Oft blieben sie in Details stecken. Motorisch waren sie ausgesprochen ungeschickt. Essen und Ankleiden bereitete ihnen große Mühe. Ihre Stimmen klangen merkwürdig, der eine sprach nasal, ein anderer hatte eine hohe, jammernde Stimme, aber sprach »wie ein Erwachsener«. Mehrere Jungen hatten ein auffälliges Talent für Mathematik oder Musik. Sie neigten zu Rigidität (»Steifheit der Psyche<) und Automatismen: Sie konnten nur schwer mit dem aufhören, was sie gerade taten. 7 Die Anpassung an etwas Neues gelang nur schlecht.
Die sechs Moskauer Jungen von Ewa Ssucharewa sind den Jungen zum Verwechseln ähnlich, die Hans Asperger 1944 in Wien beschrieb und die den Prototyp für das Asperger-Syndrom bilden sollten. Ssucharewas Artikel enthält keinen Hinweis auf Asperger. Das war auch
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