Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Cleram-bault-Patient noch eine alte Jungfer, die sich auf einen Mann in hoher sozialer Position stürzte (das Clerambault-Syndrom hieß damals auch gern >old maid’s syndrome<). ln der Psychiatrie von 1998 kann ein Clerambault-Patient auch ein Mann sein. Dass er eine homosexuelle Liebesbeziehung einzugehen versucht und aus Frustration zum Stalker wird, passt in ein psychiatrisches Profil, das ein halbes Jahrhundert zuvor noch nicht existierte.
Aber die naheliegendsten Autoren von Krankengeschichten, seit Ärzte das Genre aus der Hand gegeben haben, sind die Patienten selbst. Bonnet, Parkinson, Jackson, Korsakow, Gilles de la Tourette, Alzheimer und Asperger wurden auch zu Namensgebern von Stiftungen und Patientenvereinigungen. Auf ihren Websites finden sich Hinweise auf Autobiographien und andere Egodokumente von Patienten. Wer heutzutage wissen will, welches Leben ihn nach der Diagnose Parkinson erwartet, fragt nicht seinen Arzt, sondern liest, was seine Mitpatienten darüber schreiben. Auch diese Krankengeschichten sind nicht losgelöst von der Medizinwissenschaft. Die >Protoprofessionalisierung<, die im Kapitel über Gilles de la Tourette zur Sprache kam, ist hier manchmal in sehr reiner Form zu beobachten, beispielsweise, wenn ein Asperger-Pa-tient schreibt, sein Problem sei, dass er nicht über eine Theory of mind verfüge. Egodokumente von Patienten haben ihre natürlichen Grenzen. Die Genesung von Aphasie kann nur nachträglich beschrieben werden, Alzheimer nur in der Anfangsphase. Niemand kann erzählen, wie es ist, nicht mehr erzählen zu können.
ERWARTUNGSGEMÄSS
In einem Artikel über Charcot als Zeichner und Kunstliebhaber schrieb sein Schüler Henry Meige, le Maitre setze sein künstlerisches Talent auch beim Diagnostizieren ein. 13 Wer eine Diagnose stellt, muss das Muster in den Symptomen sehen, das Wesentliche vom Zufälligen trennen, das Detail bemerken, wodurch sich eine Krankheit ausdrückt. Und vor allem wird er, genau wie ein Zeichenschüler, lernen müssen, hinzuschauen und sich von dem zu lösen, was er zu sehen glaubt oder zu sehen erwartet. Charcot schrieb über die Rolle von Erwartungen in der Medizin und warnte, wir würden dazu neigen, nur das zu bemerken, was wir zu sehen gelernt hätten, und zu übersehen, was nicht zu unseren Vorurteilen passe. Zu lernen, vorurteilsfrei zu beobachten, war ein wiederkehrendes Thema in seinen Vorlesungen und Patientendemonstrationen: »Sie wissen, dass ich aus Prinzip Abstraktionen wenig Aufmerksamkeit schenke und Vorurteile verabscheue. Um etwas klar zu sehen, muss man die Dinge genau so nehmen, wie sie sind.« 14 Als Diagnostiker beschrieb er sich selbst in visuellen Metaphern, die seine urteilende Passivität betonten: »Ich beobachte nur, sonst nichts«, und: »Ich bin nur ein Fotograf.« 15 Freud, selbst eher ein Zuhörer, bezeichnete Charcot als visuel.
Charcots Bild von Diagnose und Beobachtung - und von sich selbst - ist durch und durch eines des neunzehnten Jahrhunderts; die Empfehlung, die daraus folgt - in sich selbst tabula rasa zu machen -, ist nicht praktizierbar. Dass Charcot als Neurologe ein hervorragender Diagnostiker war, verdankte er nicht passiver Registrierung, sondern seiner Fähigkeit, Beobachtungen mit erfinderischen und variierten Vermutungen zu verknüpfen. In den Berichten seiner Diagnostik sieht man jemanden an der Arbeit, der ein scheinbar beiläufiges Gespräch mit seinen Patienten führte, Fragen stellte, Aufträge erteilte - und unterdessen eine Hypothese nach der anderen testete. Gegen Ende der Sprechstunde gab es eine Diagnose: die eine Hypothese, die einen systematischen und vielleicht teils unbewusst verlaufenen Prozess der Eliminierung überlebt hatte. Sein »Ich beobachte nur« war vor allem intensives Nachdenken.
In der Literatur über »Entdecken liest man auch heute noch die vertraute rhetorische Wendung, dass ihre Leistungen auf der Fähigkeit beruhten, sich von dem zu lösen, was man ihnen zu sehen beigebracht hatte, und etwas zu bemerken, was bis dahin für andere, voreingenommen wie sie waren, unsichtbar geblieben war.
Erwartungsgemäß 323
Das ist eine überholte Vorstellung. Auch im Werk von Namensgebern ist nachzuweisen, wie sehr Beobachtungen und Wahrnehmungen durch bereits vorhandene Erwartungen und Interpretationen beeinflusst wurden. Viele der Tatsachen - oder was man dafür hielt -, welche die Namensgeber sammelten, sind stillschweigend wieder aus der Wissenschaft verschwunden, weil es den
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