Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Gages linke Wange ein, durchbohrt die Schädelbasis, schiebt das linke Auge fast aus seiner Höhle, durchquert den vorderen Teil seines Gehirns, tritt mit hoher Geschwindigkeit aus dem Schädeldach wieder aus und landet dreißig Meter weiter auf der Straße. 4
Zum Erstaunen seiner sprachlosen Kollegen ist Gage nicht sofort tot, er ist sogar nur ganz kurz bewusstlos. Nach wenigen Minuten spricht er schon wieder. Seine Kameraden helfen ihm auf einen Ochsenkarren und fahren ihn nach Cavendish. Gage sitzt aufrecht und notiert unterwegs sogar noch etwas in sein Arbeitsbuch. Einen der Männer haben sie zu Pferd vorgeschickt, um Dr. Harlow, den ortsansässigen Arzt, zu informieren. Auf dem Weg begegnet der Vorausreitende Pfarrer Freeman. Der hört, was geschehen ist, und in der Erwartung, dass sein Beistand vonnöten sei, schließt er sich dem Trupp an. Um 17 Uhr erreicht die Gesellschaft das Hotel, in dem Gage wohnt. Er steigt selbst aus und setzt sich auf die Veranda, um auf einen Arzt zu warten.
Der erste Eintreffende ist Doktor Williams aus dem Nachbarort Proctorsville. Er sieht die Kopfwunde schon von seinem Wagen aus: ein Loch in der Schädeldecke mit einem Durchmesser von etwa vier Zentimetern, wodurch das pulsierende Gehirn deutlich zu erkennen ist. Gage begrüßt ihn mit den Worten: »Doctor, here is business enough for you.« 5 Er erzählt selbst, wie es zu dem Unglück kam. Williams kann kaum glauben, dass jemand mit einer solchen Verletzung überlebt. Die Ränder der Wunde ragen trichterförmig nach oben, als wäre ein keilförmiger Gegenstand von unten hindurchgegangen. Um achtzehn Uhr trifft auch Harlow ein. Gemeinsam helfen sie Gage die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Mit zwei Zeigefingern, einem von unten und einem von oben, überzeugt sich Harlow davon, dass es sich um eine durchgehende Wunde handelt, seine Fingerspitzen berühren sich. Er entfernt noch einige Knochenreste, legt die größten Stücke wieder auf den Schädel und verbindet die Wunde. Seine Kollegen bräuch-ten nicht vorbeizukommen, meint Gage, er werde sie in wenigen Tagen bei der Arbeit Wiedersehen.
Diesen Optimismus teilen die beiden Ärzte nicht, auch der Pfarrer ist skeptisch, ebenso wie der ortsansässige Schreiner, der schon einmal vorbeikommt, um bei Gage Maß zu nehmen, damit ein passender Sarg vorhanden ist. 6 Aber der Patient übersteht die Nacht gut. Am nächsten Morgen hat er Schmerzen und spricht ein wenig mühsamer, aber er erkennt jeden und fragt, wer eigentlich für ihn als Ersatz im Arbeitstrupp eingesprungen sei. Die Schwierigkeiten beginnen erst ein paar Tage später. Die unvermeidlichen Infektionen und Abszesse bringen ihn an die Schwelle des Todes. Er beginnt zu fantasieren und fällt für ein paar Tage ins Koma. Aber auch diese Komplikationen überlebt Gage. Allmählich kehren seine Kräfte zurück. Nach zwei Monaten erklärt man ihn für gesund. Äußerlich zeugen nur ein blindes linkes Auge und eine spürbare Delle in seiner Schädeldecke von dem Unfall. Ende November kehrt er an seinen Geburtsort Lebanon zurück.
Gage ist inzwischen auch wieder mit seinem Stab vereint. Pfarrer Freeman hatte kaum glauben können, dass dieser wirklich durch den Schädel gegangen war. Nachdem die Ärzte Gage von der Veranda zu seinem Zimmer gebracht hatten, war er zur Unfallstelle gefahren. Er sah den Stab, der an der Wand eines Schuppens lehnte. Arbeiter hatten ihn gefunden und in einem Bach gesäubert. In einer schriftlichen Erklärung, wie sie später auch von anderen Zeugen erbeten wurde, berichtet der Pfarrer, der Stab habe immer noch schmierig ausgesehen und sich auch so angefühlt. 7 Gage bekam ihn zusammen mit seinem sonstigen Werkzeug zurück.
Am Tag nach dem Unfall erschien in einer Lokalzeitung in Vermont ein Artikel, der dem doppelten Erstaunen Ausdruck verlieh, das jeder gefühlt haben musste. Unter der Überschrift »Horrible Accident« wurde detailliert beschrieben, wie der Stab durch Gages Kopf geschossen war, samt den Maßen des Stabs bis auf den Zentimeter genau. 8 Aber das Bemerkenswerteste an dieser »melan-choly affair« sei doch, so der Artikel, dass Gage am nächsten Tag um zwei Uhr mittags noch immer am Leben gewesen sei. In den Tagen und Wochen danach kann man die steigende Verwunderung an den Titeln ablesen: »eine erstaunliche Tatsache«, »so gut wie auferstanden vom Tode«, »unglaublich, aber wahr«. »Wir leben in einem sehr bewegten Zeitalter«, schrieb jemand im Christian Reflector and Christian
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