Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Watchman (Boston), »aber wenn es möglich ist, dass jemand dreizehn Pfund Eisen durch den Kopf ge-
Holzgravuren, die Bigelow 1850 von einem Schädel anfertigen ließ, in den er selbst Löcher gebohrt hatte, um den Weg des Stabs durch Gages Kopf anzugeben.
jagt bekommt, ein Teil seines Gehirns mitgenommen wird und er dennoch überlebt, dann dürfen wir getrost ausrufen: >What
next?<« 9 Auch die medizinische Welt wurde hellhörig. Drei Monate nach dem Unglück veröffentlichte Harlow einen Artikel im Boston Medical and Surgical Journal unter dem Titel »Passage of an iron rod through the head«. 10 Er erklärte den vermutlichen Weg des Stabs durch das Gehirn, die Komplikationen der Wunden und den Verlauf der Heilung. Die Skepsis der Kollegen - ist dieser Dorfarzt wirklich ganz sicher, dass der Stab durch den Kopf ging? - schwand durch das Eingreifen Bigelows, des zukünftigen >Professor of Surgery< an der Harvard Medical School. Bigelow bat Harlow, möglichst viele Erklärungen unter Eid zu sammeln, vom Pfarrer, dem ersten Arzt vor Ort, Williams, und von Adams, dem Hotelbesitzer. 11 Er ließ sich auch den Stab zuschicken und lud später Gage nach Boston ein. Dort wurde er am 10. November 1849 der Boston Society for Medical Improvement vorgeführt. Bigelow hatte zwei Löcher in einen Schädel gebohrt, um zu demonstrieren, dass der Stab durch das Gehirn schießen konnte, ohne den Gesichtsnerv zu berühren. Gages Besuch diente auch dazu, einen Abguss von seinem Kopf anzufertigen. Daran ist zu erkennen, dass seine Schädeldecke eine Delle aufweist. Auf Bitten Bigelows stellte Gage dem Museum des Massachusetts Medical College seinen Stab zur Verfügung. Aber kurz darauf erbat er ihn wieder zurück, denn er hatte andere Pläne damit.
Abguss von Phineas Gage, ein Jahr nach dem Unfall.
Über sein weiteres Schicksal informiert Harlow, der 1868 vor der Massachusetts Medical Society einen Vortrag hielt: »Recovery from the passage of an iron bar through the head.« 12 Gage hatte den Winter nach dem Unglück zu Hause in Lebanon verbracht. Im Frühjahr kehrte er nach Cavendish zurück, in der Hoffnung, seine
Arbeit wieder aufnehmen zu können. Aber das war ausgeschlossen. Seine Kameraden merkten, dass sich seine Persönlichkeit verändert hatte. Der verantwortungsbewusste und geduldige Vorarbeiter hatte sich in einen Hitzkopf verwandelt. Seine Sprache war obszön geworden und schon beim geringsten Anlass begann er zu fluchen und zu schimpfen. Pläne gab er ebenso schnell auf wie er sie fasste.
Harlow schreibt, bei Gage sei »das Gleichgewicht zwischen seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinen animalischen Neigungen« gestört. 13 Sein Interesse begann sich auf Pferde und Hunde zu beschränken - und vor allem auf seinen Stab, den er ängstlich bei sich hielt. Er zog nach New York, wo er sich eine Zeit lang im American Museum von P.T. Barnum besichtigen ließ. Für zehn Cent extra durften Besucher seine Haare zur Seite schieben, um unter der dünnen Haut das Pulsieren des Gehirns zu betrachten. Ab 1851 arbeitete Gage etwa anderthalb Jahre bei einer Pferdevermietung. 1852 ging er nach Chile, wo er als Kutscher und Stallknecht in den Dienst einer Postkutschenlinie trat. Ende der Fünfzigerjahre verschlechterte sich seine Gesundheit. In der Hoffnung, eine Klimaänderung täte ihm gut, zog er nach Kalifornien. Dort nahm er wiederum verschiedene Jobs an. Nicht viel später bekam er während des Abendessens einen epileptischen Anfall, den ersten einer ganzen Reihe. Die Anfälle folgten in immer kürzeren Abständen, und am 20. Mai 1860 starb Gage in San Francisco. Er wurde auf dem Lone Hill Mountain begraben, den Stab an seiner Seite.
DIE WIEDERAUFERSTEHUNG VON PHINEAS GAGE
Lange sollte sein Körper dort nicht ruhen. Harlow hatte Gage durch dessen zahlreiche Wanderungen aus den Augen verloren, aber im Juli 1866 erfuhr er die Adresse von Gages Mutter. Ab diesem Moment setzte er alles daran, Gages Schädel für die Wissenschaft zu erhalten. Er bedauerte sehr, dass man Gages Gehirn nach seinem Tod keiner Autopsie unterzogen hatte, aber vielleicht konn-
ten die Löcher im Schädel Aufschluss darüber geben, welche Teile des Gehirns genau beschädigt worden waren.
1867 wurde Gages Leichnam wieder ausgegraben. Schädel und Stab gelangten über einen Schwager Gages zu Harlow. In seinem Vortrag bedankte er sich bei Gages Mutter und Freunden für die mehr als lobenswerte Großmut, mit der sie ihre persönlichen Gefühle zur
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