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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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befreundet und hoffte, einen experimentellen Beweis für dessen Theorie zu finden, dass das Gehirn ein hierarchisches System ist, in dem die >niedrigeren< Teile durch >höhere< Teile in Schach gehalten werden müssen. Entfällt diese Steuerung, werden evolutionär primitivere Gehirnstrukturen aktiv. Gage bestätigte nach Ferrier diese >Release-Theorie<: Durch die frontale Läsion waren vitale Hemmungsmechanismen verloren gegangen und das hatte zu chaotischem, impulsivem Verhalten geführt. Andere bestritten, dass Gage chaotisch handelte: Einen Sechsspänner zu lenken, wie er es in Chile getan hatte, war eine Aufgabe, die große Konzentration erforderte. So blieb Gage in der wissenschaftlichen Arena ein beeindruckender Zeuge, auch wenn niemand im Vorhinein wusste, ob seine Aussage belastend oder entlastend ausfallen würde.
    PHINEAS GAGE, VERSION DAMASIO
    Der Phineas Gage, wie er hier oben beschrieben wurde, ist von dem australischen Psychologen Malcolm Macmillan vorbildlich aus den historischen Quellen rekonstruiert worden. Mit Hilfe eines ganzen Heeres lokaler Historiker hat er an wirklich jedem Ort nachgeforscht, an dem Gage möglicherweise eine Spur hatte hinterlassen können: auf Passagierlisten von Ozeandampfern, in Zirkusarchiven, Museumskatalogen, Verwaltungsunterlagen von Pferdevermietungen, Tagebüchern und der Korrespondenz von Menschen aus den Städten, die Gage während seiner Tournee besucht hatte, in Registern von Lokalzeitungen und Archiven medizinischer Gesellschaften. In An odd kind of fcime: stories of Phineas Gage dokumentiert Macmillan nicht nur Gages Leben, sondern auch dessen Schicksal - zu Lebzeiten und postum - vor dem Hintergrund der herrschenden neurologischen Theorien. Die Biographie enthält nicht alles, was wir gern über Gage wüssten, aber vielleicht doch alles, was noch zu finden war.
    Die aktuellste Etappe bei den Wanderungen des Phineas Gage ist sein Auftritt in Descartes’ Irrtum. Das Buch von Antonio Damasio, einem Neurologen portugiesischer Herkunft und momentan Leiter der Abteilung Neurologie der University of Iowa Hospitals and Clinics, ist in vielfachen Übersetzungen um die Welt gegangen und hat auch außerhalb neurologischer Fachkreise ein breites Leserpublikum gefunden. Die Einleitung ist Gage gewidmet. Damasio schreibt, bei ihm sei das Denkinstrumentarium noch intakt gewesen. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, Sprachbeherrschung - alles vorhanden, was man zum Argumentieren und Überlegen brauche. Dennoch könne man nicht sagen, Gage habe nach seinem Unfall vernünftige Entscheidungen getroffen. Es scheine, als habe er nicht mehr aus seinen Fehlern lernen können. Sein sozialer Untergang sei die Folge seines Unvermögens gewesen, die persönlichen und sozialen Aspekte seiner Entscheidungen richtig einzuschätzen. Wirkliche Rationalität sei unmöglich, wenn der emotionale Haushalt abhanden gekommen sei. Descartes’ Irrtum nun, so Damasio, sei, zu denken, der Intellekt könne isoliert von Gefühlen seine Arbeit verrichten. Anderthalb Jahrhunderte nach seinem Unfall tritt Gage in einem neuro-philosophischen Argument gegen Descartes auf.
    Macmillan zeigt in seiner Biographie, dass viele Autoren den Fall Gage so beschrieben haben, dass er besser in die jeweilige Theorie passte. Damasio ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Aber als Allererstes fällt auf, dass Damasio das Unglück und Gages spätere Erlebnisse drastisch >inszeniert< - alles andere wäre verharmlosend ausgedrückt.
    Seine Version enthält allerlei Details, die in den ursprünglichen Dokumenten nicht zu finden sind. Er lässt das Unglück am Ende eines »heißen Nachmittags« geschehen, während Macmillan in lokalen Tagebüchern den 13. September 1848 als »ziemlich kalten« Tag beschrieben fand, »klar, mit kühlem Wind« und »angenehm, aber kühl«. Nachdem der Schwerverletzte beim Hotel abgeliefert wurde, lesen wir: »Seit der Explosion ist eine Stunde vergangen. Die Sonne steht inzwischen tiefer und die Hitze ist erträglicher geworden.« 18 Es gibt keine Fotos oder Porträts von Gage, nur den Abguss, der 1849 angefertigt wurde. Dennoch weiß Damasio, dass er aussah wie »ein junger Jimmy Cagney, ein perfekter Yankee Doodle Dandy, der in Steppschuhen über Schwellen und Schienen tanzte, kraftvoll und anmutig in seinen Bewegungen«. 19 Als sich Gage gegen Ende seines Lebens 1860 in San Francisco befindet, wird er sich laut Damasio wohl nicht im wohlhabenden Teil der Stadt aufhalten: »Trinkend und

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