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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Seite geschoben hatten und
    Holzgravuren zu Harlows Artikel Recovery from the passage of an iron bar through the head« (1868).

    - wir lassen das Dankeswort unüber-setzt - »at my request have cheerfully placed this skull (which I now show you) in my hands, for the benefit of Science«. 14 Das »cheerfully« trifft den modernen Leser. In Harlows Wahrnehmung muss es ein Vergnügen sein, etwas zur Wissenschaft beitragen zu dürfen, zur Not die stofflichen Überreste eines lieben Nächsten. Von Harlows Händen wanderten Schädel und Stab ins Warren Anatomical Museum von Harvard, wo sie bis zum heutigen Tag als neurologische Reliquien gehütet werden.
    Nach seinem Tod und Begräbnis stand Phineas Gage wieder auf, um eine lange Wanderung durch die neurologische Literatur zu beginnen, den Stab unterm Arm. Schon 1851, noch zu seinen Lebzeiten, hatte ein Anonymus in The American Phrenological Journal geschrieben, bei Gage hätten nach seiner Genesung die animalischen Neigungen die absolute Herrschaft in seinem Charakter übernommen. 15
    Die Wortwahl erinnert an Harlow, der vielleicht die Quelle war, auch wenn dieser sein Urteil über den Wandel in Gages Charakter erst 1868 drucken ließ. Gages Verletzung war eine Waffe in den Händen von Phrenologen, aber auch in denen ihrer Gegner. Phre-nologen zeichneten auf Gipsschädel und Karten die Fächer ein, die den darunterliegenden >Gehirnorganen< entsprachen. In ihrer Topographie des Geistes war der Stab bei Gage durch die Organe des Wohlwollens und der Ehrfurcht geschossen. Wohlwollen stand für Mitgefühl, Empfindsamkeit, Gewissen; Ehrfurcht für Gläubigkeit, Zuneigung und Gehorsamkeit. Waren dies nicht genau die Eigenschaften, die bei Gage verloren gegangen waren? Zuletzt sei er in seinen Auslassungen so vulgär geworden, erinnerte sich der Phrenologe Sizer, dass seine Gesellschaft für »persons of delicacy, especially women« kaum zu ertragen gewesen sei. 16 Kritiker der Phrenologie, darunter viele Mediziner, fanden, der Umfang der Verletzung sei geradezu das beste Argument gegen die Auffassung, das Gehirn sei in gesonderte Organe unterteilt: Wenn ein Stab in einem so großen Gebiet Schaden anrichte und der Patient danach keinerlei Probleme beim Sprechen, Erinnern, Bewegen und Denken habe, dann müssten diese Funktionen doch gut über das Gehirn verteilt sein. Bigelow, ein entschiedener Gegner der Phrenologie, schrieb, Gages Genesung sei vor allem der Tatsache zu verdanken, dass gerade der Teil des Gehirns, durch den der Stab geschossen sei, sich am besten dazu eigne, die Verletzung zu überstehen. Vielleicht passiere in diesen Stirnlappen ja gar nicht so viel.
    Genau in den Jahren, in denen Gage seine kurze Grabruhe genoss, machte man auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans eine Entdeckung, die einem kleinen Gebiet in den Stirnlappen eine herausragende Stellung verleihen sollte. 1861 präsentierte der Pariser Neurologe Paul Broca das Gehirn eines soeben verstorbenen Aphasiepatienten, eines Schuhmachers. Das Gehirn hatte auf der linken Seite ein Loch im Frontallappen. Es lag auf der Hand, anzunehmen, dass sich hier das »Gedächtnis für Worte« befand, wie Broca es formulierte. In den heftigen Kontroversen über die Ansiedlung der Sprache - die sich über einen bedeutenden Teil der Sechziger- und Siebzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts hinziehen sollten - bekam der mittlerweile wieder ausgegrabene Phineas Gage den Status eines Gegenarguments. Es war unanfechtbar, dass der Stab durch den linken Frontallappen gegangen war, und es war ebenso unbestreitbar, dass Gage nach einer kurzen Unterbrechung einfach weitergesprochen hatte.
    Aber auch diese Kontroverse hat Gage nicht schlichten können. War der Stab nicht haarscharf an dem Broca-Gebiet vorbeigeschossen? Oder befand sich das Sprachzentrum bei Gage vielleicht rechts? Oder verteilt über beide Hälften, so dass die Sprache nicht einseitig gestört werden konnte? War nicht die ganze Idee eines Sprachzentrums anfechtbar? In allen großen neurotopogra-phischen Disputen des neunzehnten Jahrhunderts ist Gage ein Argument gewesen, und nirgends das entscheidende. Der britische Neurologe David Ferrier führte ihn 1878 als Beweis für seine Theorie an, die Frontallappen hätten eine wesentliche Bedeutung für die psychologische Funktion der Aufmerksamkeit. 17 Hier sollten sich die hemmenden Mechanismen befinden, die das Handeln aufschöben und so das Konzentrationsvermögen förderten. Ferrier war mit Hughlings Jackson

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