Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
a.D. kennen gelernt, der nach einer Säbelverletzung am Kopf große Schwierigkeiten hatte, sich an Worte zu erinnern. Nach dessen Tod fragte Dax bei der Familie nach, an welcher Stelle der Offizier genau verletzt worden war. In der Mitte der linken Stirnhälfte, lautete die Antwort. In den folgenden Jahren stieß Dax in seiner Praxis und in der Fachliteratur auf mehrere solcher Fälle. Der renommierte Botaniker Broussonet verlor 1806 seine Fähigkeit zu sprechen. Nach seinem Tod las Dax zufällig, dass man bei der Autopsie ein großes Geschwür in der linken Gehirnhälfte gefunden hatte. Bis 1836 sammelte Dax mehr als achtzig Fälle von Sprachverlust: Die Schädigungen befanden sich ausnahmslos auf der linken Seite. Hier musste es sich also um ein organisches Gesetz handeln.
Warum eine Verletzung an der linken Seite nun gerade das Wortgedächtnis angriff, das Erinnerungsvermögen ansonsten aber intakt ließ, war auch Dax ein Rätsel, doch der Zusammenhang war offensichtlich, ln seiner Praxis profitierte er mehrmals von dieser Erkenntnis. So war eine seiner Patientinnen in Ohnmacht gefallen und vom Stuhl gerutscht. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, konnte sie für kurze Zeit kein Wort herausbringen. Als sie zwei Tage später erneut das Bewusstsein verlor und der herbeigeeilte Dax feststellte, dass sie diesmal ihr Sprachvermögen vollständig eingebüßt hatte, brauchte er nach eigenen Angaben »nicht lange über die Art, den Ort und die Behandlung dieser Krankheit nachzudenken. Ich legte schnell eine große Anzahl Blutegel an die linke Stirnseite und nach ein paar Minuten, als das Blut floss, konnte sie allmählich wieder sprechen.« 15
Dax hielt seine Beobachtungen in einem kurzen memoire fest, das er 1836 auf einem Kongress in Montpellier präsentieren wollte. Doch dazu ist es wahrscheinlich nicht gekommen. Es gibt keinen einzigen Hinweis darauf, dass Dax seinen Bericht tatsächlich vorgelegt hat, und auch in der Fachliteratur findet sich kein einziger Verweis. Er selbst konnte seine Befunde nicht mehr veröffentlichen: Dax starb 1837.
Auch sein Sohn Gustave ließ sich nach seinem Studium als Hausarzt in Sommieres nieder. Dax jr. machte den linksseitigen Ursprung von Sprachverlust zur Familiensache. Aus Fachliteratur und eigener Praxis trug er 140 weitere Belege zusammen - 87 Fälle von Sprachverlust nach Läsionen der linken Gehirnhälfte, 53 Fälle ohne Sprachverlust nach Läsionen der rechten Hemisphäre
- und fügte diese dem Dossier bei, das sein Vater angelegt hatte. 1858 war der ausführliche Bericht der gemeinsamen Beobachtungen fertig, doch leider stand Gustave auch in seiner Veröffentlichungspolitik dem Vater in nichts nach: Er ließ Kollegen einige Exemplare zukommen, sandte seinen Bericht jedoch an keine Fachzeitschrift.
Erst nach den Veröffentlichungen, die auf die Präsentation von Tans Gehirn im Jahr 1861 folgten, wurde Dax aktiv. Er hatte ein großes - und womöglich auch ein etwas naives - Vertrauen in die beiden Akademien. Doch vorläufig geschah nicht mehr, als dass man Kommissionen einsetzte. In der Kommission der Academie des Sciences war Flourens Mitglied, von ihr hörte man nie wieder etwas. In der Kommission der Academie de Medecine saß der Arzt Lelut, der sich eineinhalb Jahre Zeit ließ, um dann einen vernichtenden Bericht vorzulegen, in dem er zum Ausdruck brachte, dass er im Werk von Vater und Sohn Dax nichts anderes sehen könne als den Versuch, die Phrenologie wieder zum Leben zu erwecken. 16 Sollte der »ehrwürdige Autor« mit seinen 140 Fällen recht haben, dann folgte daraus, dass »jede der beiden Hemisphären, und sogar jeder Teil dieser Hemisphären der Sitz unterschiedlicher Funktionen sein könnte. Dasselbe Prinzip würde dann auch für die anderen gepaarten Organe des Körpers gelten.« 17 Hier war die Grenze dessen erreicht, was Lelut zu glauben bereit war. Schließlich würde auch noch jemand daherkommen, der behauptete, »man sähe nur mit einem Auge, dem linken zum Beispiel, während das rechte Auge zu etwas ganz anderem diene«. 18 Dax pere und Dax fils mochten vielleicht Fall auf Fall gehäuft haben, er selbst habe vor dreißig Jahren bereits einen einfachen Gegenbeweis gesehen: einen epileptischen Patienten, der normal habe sprechen können, während die Autopsie ergeben habe, dass seine linke Gehirnhälfte zu einer breiartigen Masse zersetzt war. Ein anderer Patient mit Sprachstörungen habe einen Tumor im Kleinhirn gehabt, doch bei ihm sei gerade nichts
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