Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Fronta/lappen hatte, und nicht, dass sie in der dritten Windung oder gar einseitig zu lokalisieren war, geschweige denn immer auf der linken Seite. Bouillaud und Broca waren sich zu dieser Zeit zumindest in einer Hinsicht vollkommen einig: Sprache konnte auf keinen Fall nur auf einer Seite repräsentiert sein.
    Im selben Jahr noch untersuchte Broca das Gehirn eines gewissen Lelong, eines vierundachtzigjährigen Mannes mit Sprachverlust, und entdeckte - nach eigener Aussage: zu seiner großen Bestürzung - an derselben Stelle wie bei Tan eine Verletzung. Das beschädigte Gebiet war kleiner, etwa so groß wie eine 1-Franc-Münze, befand sich allerdings in derselben Stirnwindung, ebenfalls auf der linken Seite. Er neige dazu, zu glauben, schrieb Broca, dass es sich um reinen Zufall handele. Sicherheitshalber ließ er jedoch auch dieses Gehirn ins Museum bringen. In den folgenden Jahren führte Broca bei acht weiteren Fällen mit Sprachverlust Autopsien durch. Die Verletzungen befanden sich immer auf der linken Seite. Diese Regelmäßigkeit stellte Broca vor ein großes
    Problem, denn sie untergrub das Symmetriegesetz, das der französische Arzt Xavier Bichat formuliert hatte: »Harmonie ist für die Funktionen der Organe, was Symmetrie für ihre Übereinstimmung ist: Das setzt eine vollkommene Gleichheit bezüglich Kraft und Leistung voraus, wie Symmetrie auf die exakte Übereinstimmung hinsichtlich äußerer Formen und innerer Struktur verweist.« 10 Es schien so selbstverständlich, dass Organe, die eine identische Struktur aufweisen, auch eine identische Funktion haben, dass niemand auch nur auf die Idee kam, dieses Gesetz in Frage zu stellen: Nieren, Lungen, Augen, Ohren und andere doppelte Organe erfüllten dieselbe Funktion. Es war undenkbar, dass die exakt spiegelbildlich angelegten Gehirnhälften eine Ausnahme darstellen sollten. Die sich ständig mehrenden Dokumentationen über Patienten mit Sprachverlust und linksseitigen Schädigungen beunruhigten Broca. »Ein Verstoß gegen die Symmetrie«, schrieb er, »wäre eine wahre Unterminierung unseres Wissens über die Gehirnphysiologie.« 11 Und: »Ich hoffe, dass andere mehr Glück haben als ich und endlich einen Fall von Aphemie finden, der infolge einer Verletzung der rechten Gehirnhälfte entstand. Bis jetzt ist immer die linke Gehirnwindung angegriffen.« 12 Im Juli 1863 geschah jedoch genau das Gegenteil dessen, was Broca gehofft hatte: Ein Kollege berichtete von einem Patienten mit einer schwerwiegenden Beschädigung der dritten Windung im rechten Frontallappen. Seine Fähigkeit zu sprechen hatte er nicht eingebüßt.
    Bichats Symmetriegesetz war eher Ausgangspunkt als Ergebnis der Untersuchungen. Man assoziierte Symmetrie mit Schönheit, Gleichgewicht und Ordnung - Werte, die auch die Wissenschaft für sich beanspruchte. Was von der Symmetrie abwich -schiefes Wachstum, Einseitigkeit, Labilität -, schien die Tür zu Chaos und Pathologie zu öffnen. Wie groß die Anziehungskraft der Symmetrie war, veranschaulichen die höhnischen Reaktionen auf die Vermutung, der Verlust der gesprochenen Sprache könne tatsächlich nur auf linksseitige Verletzungen zurückgeführt werden. So erklärte der Arzt Briquet seinen Kollegen während einer Sitzung der Academie de Medicine, solches wolle man doch unmöglich ernsthaft in Erwägung ziehen. Man glaube doch auch nicht, das rechte Ohr höre nur do, re, mi, fa, und das linke sol, la, ti, oder mit dem rechten Nasenloch rieche man nur angenehme Gerüche und mit dem linken die unangenehmen? Broca wurde durch die wachsende Zahl von Aphasiefällen mit linksseitiger Schädigung allmählich - und gegen seinen Willen - in jene Richtung geschoben, die er später als seine »Entdeckung« bezeichnen sollte.
    DAS DAX-ZENTRUM
    Im März 1863 erhielten die Academie des Sciences und die Acade-mie de Medecine einen Brief von einem gewissen Gustave Dax. Dieser Hausarzt aus Sommieres, einem kleinen Dorf in der Nähe von Montpellier, schickte einen Bericht nach Paris, den sein Vater, Marc Dax, ebenfalls Hausarzt, angeblich schon 1836 vorgelegt hatte. 13 Gustave Dax wollte festgehalten sehen, dass sein Vater bereits vor Broca den Zusammenhang zwischen Sprachverlust und linksseitiger Gehirnschädigung entdeckt hatte. Damit nahm eine Auseinandersetzung ihren Anfang, bei der es schon bald nicht mehr nur um die Reihenfolge ging, sondern auch darum, was in der Wissenschaft als »Entdeckung« gilt. 14
    Marc Dax hatte 1800 einen Kavallerieoffizier