Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
6
Gail starb 1828. Etwa dreißig Jahre nach seinem Tod hatte die Phrenologie in der französischen medizinischen Wissenschaft noch einen einzigen bedeutenden Anhänger: Jean-Baptiste Bouil-laud, Gründer der Societe Phrenologique. Bouillaud - Mitglied der Academie de Medecine und Dekan der Medizinischen Fakultät -war ein Mann, den man nicht einfach übergehen konnte. Bereits 1825 hatte er Beobachtungen veröffentlicht, die darauf hin wiesen, dass Sprachverlust infolge einer Verletzung in den Stirnlappen entstehe. 7 Seine These hatte er mit einem ziemlich grausamen Experiment zu stützen versucht: Er hatte ein Loch in die Schädeldecke eines Hundes gebohrt und den Stirnlappen seitlich verletzt. Bouillaud notierte, der Hund sei nach der Operation erheblich weniger aufgeweckt gewesen und er habe auch nicht mehr gebellt. 8 1839 berichtete er von einem Demonstrationsexperiment. Ein Patient hatte sich in den Kopf geschossen, wodurch ein Teil der Schädeldecke fehlte. Bouillaud: »Wir waren neugierig, welche Auswirkungen es auf die Sprache haben würde, wenn man das Gehirn eindrückte, und so hielten wir einen großen Spatel an den offen liegenden Teil und drückten damit von oben und ein wenig von vorn nach hinten. Bei schwachem Druck erstarb die Sprache auf seinen Lippen, wenn wir stärker drückten, hörte er nicht nur auf zu sprechen, sondern brach sogar die Worte abrupt ab.« 9 Bouillaud unterschied - wie auch später Broca - zwischen >innerer Sprache«, dem Instrument des Denkens, und >äußerer Sprache«, der Artikulation der Gedanken. Beide Formen der Sprache, schrieb er 1825, seien in den Stirnlappen situiert. 1860 glaubte er das noch immer.
Im Februar 1861, wenige Monate vor der denkwürdigen Präsentation von Tans Gehirn, hatte ein Schwiegersohn Bouillauds, der Arzt Ernest Auburtin, während einer Sitzung der Societe d’Anthropologie erklärt, Sprachstörungen gingen mit einer Beschädigung der Stirnlappen einher. Wie Flourens war Broca zu diesem Zeitpunkt noch der Überzeugung, die höheren Funktionen seien im gesamten Gehirn repräsentiert. Vielleicht hätten, so Broca, die Stirnlappen einen relativ großen Anteil daran, aber bestimmt nicht aufgrund phrenologischer >Organe<. Galls Gehirnlehre war wirklich das Letzte, womit Broca in Verbindung gebracht werden wollte. Als Tan im April auf seine Station verlegt wurde, ergriff er die Gelegenheit beim Schopf. In den Tagen zwischen Tans erster klinischer Untersuchung und der Autopsie seines Gehirns bat er Auburtin, nach Bicetre zu kommen. Sei der verehrte Kollege, so fragt er, nicht auch der Auffassung, dass es sich hier um einen lupenreinen Fall von Sprachverlust handle? Und wenn nun bei der Autopsie keine Beschädigung in den Stirnlappen gefunden würde, wäre er, Auburtin, dann bereit, Bouillauds und Galls Thesen auf immer und ewig abzuschwören? Nach einer kurzen Untersuchung Tans erklärte sich Auburtin mit Brocas Vorschlag einverstanden. Mit großer Spannung warteten die beiden Herren den Tod des Schuhmachers ab.
Nicht Broca, sondern Auburtin und sein Schwiegervater gingen mit dieser Vereinbarung ein großes Wagnis ein, denn sie riskierten, dass ihre Theorie, mit der sie sich in den Augen der meisten Kollegen sowieso schon lächerlich machten, nun eindeutig widerlegt werden könnte. Das Loch im Stirnlappen muss sie mit
Genugtuung erfüllt haben. Broca trug seine Niederlage mit Großmut. Er erklärte den Zuhörern, seine Beobachtungen stützten Bouillards Auffassung, wobei es jedoch noch keine ausgemachte Sache sei, ob tatsächlich der gesamte Frontallappen bei gesprochener Sprache involviert sei oder nur bestimmte Windungsgruppen. Er schlug vor, den Sprachverlust als >aphemie< zu bezeichnen, was sich jedoch nicht durchsetzen konnte: Nach wenigen Jahren entschied sich die medizinische Wissenschaft für den Begriff >Apha-sie<, wörtlich: ohne Sprache.
Brocas Entdeckung wurde sehr zurückhaltend aufgenommen. Viele waren äußerst skeptisch, dass ausgerechnet Sprache, die im Zusammenhang mit Vernunft und Urteilsvermögen stand, in einem relativ begrenzten Gebiet repräsentiert sein sollte. Dass dieses Gebiet jedoch - wenn es denn existierte - im Frontallappen zu liegen schien, passte wiederum genau in die vorherrschenden Theorien: Schließlich unterschied sich der Mensch von den Tieren durch die Beherrschung von Sprache und den weitaus größeren Frontallappen. Und genau das war es, was Broca 1861 entdeckt zu haben glaubte: dass unsere Sprache ihren Sitz im
Weitere Kostenlose Bücher