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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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stülpte sich die Hirnhaut weit nach innen, wie sich herausstellte aufgrund einer Aushöhlung, »ungefähr so groß wie ein Hühnerei«. 5 Kein Gebiet im Gehirn war noch vollkommen intakt, doch die dritte Windung war am stärksten beschädigt. Aus einem gesunden Gehirn schnitt Broca ein ebenso großes Loch und wog das Gewebe. Bei Tan waren etwa fünfzig Gramm Gehirngewebe verschwunden. Der Rest des Gewichtsverlustes des Gehirns war auf allgemeine Atrophie zurückzuführen. Für Broca grenzte es an ein Wunder, dass jemand mit solch einem beschädigten Gehirn noch so lange Zeit gelebt hatte. In seiner Rekonstruktion lag das Zentrum der Gehirnschädigung, die einundzwanzig Jahre zuvor die Ursache der Sprachstörung gewesen war, genau dort, wo sich nun die eigroße Höhlung befand, in der dritten Stirnwindung also. Von dort aus hatte sich das Gehirn weiter zersetzt und die Lähmungen verursacht. Broca beschloss, das Organ nicht weiter auseinanderzunehmen. Dieses Gehirn gehörte ins Museum. Nach der Autopsie ließ er es in Alkohol gleiten. Tans Gehirn wurde zum Musee Dupuytren gebracht, wo es in der Sammlung unter der Katalognummer »55a, Nervensystem« aufgenommen wurde.
    DAS NEURO POLITISCHE MINENFELD
    Brocas soziales Leben war bestimmt vom Rhythmus der Zusammenkünfte der medizinischen Gesellschaften. Die Freitage gehörten der Societe dAnatomie, dazu kamen später noch die Dienstagnachmittage für die Societe de Chirurgie und die Samstagnachmittage für die Societe de Biologie. Die Gesellschaften tagten in einem festen Turnus, der Urlaub ausschloss und Abwe-sendheit ahndete. Ab 1859 war auch der Donnerstagnachmittag besetzt, als Broca Mitbegründer der Societe d’Anthropologie wurde, deren Schriftführer er bis zu seinem Tod bleiben sollte. Zwei Jahre zuvor hatte er sich mit der elf Jahre jüngeren Adele Augustine Lugol vermählt. Das Ehepaar bekam drei Kinder.
    Mit der Gründung der Societe dAnthropologie hatte man keine politischen Absichten verfolgt, aber nahezu alles, was auf der Tagesordnung stand, war politisch brisant. >Rassen<-Unterschiede zum Beispiel - ein Thema, das regelmäßig Gegenstand der Dispute war - konnten Konsequenzen für die Bewertung der Sklaverei haben, und Unterschiede zwischen Männern und Frauen für die Zulassung von Frauen zu den Universitäten. Die Regierung behielt die Aktivitäten der Gesellschaft genauestens im Auge. Bei jeder Sitzung war ein Zivilbeamter anwesend, und wer sich zu einem Thema wie dem des menschlichen Gehirns äußern wollte, bewegte sich - auch wenn es sich um eine scheinbar rein wissenschaftliche Frage wie die der Repräsentation von Sprache handelte
    - in einem neuropolitischen Minenfeld.
    Die Auseinandersetzungen darüber, ob psychologische Funktionen wie Gedächtnis, Sprache und Wahrnehmung in bestimmten Gebieten des Gehirns lokalisiert werden können, hatten ihre Wurzeln in der Phrenologie, der Gehirnlehre des Wiener Arztes Franz Joseph Gail. Die Phrenologie taucht in der Geschichtsschreibung der Neurologie meist als Kuriosum auf: Sie betrachtete das Gehirn als eine Ansammlung von Organen, deren Umfang ein Maß für ihre Entwicklung war. Phrenologen zufolge kamen Anlagen für Sprache oder Mathematik und Charaktereigenschaften wie Mut oder Eitelkeit in Ausstülpungen auf dem
    Schädel zum Ausdruck. Gail selbst hatte einmal einen Fall von Sprachverlust bei einem Soldaten beschrieben, durch dessen linke Augenhöhle ein Degen in den Stirnlappen gedrungen war. Das war der Ort, wo die Phrenologen das Gedächtnis situierten, gleich hinter den Augen. Laut Gail war durch den Stich das Wortgedächtnis beschädigt worden. In Frankreich jedoch wollte das medizinische Establishment nichts von der Phrenologie wissen. Der Pariser Arzt Pierre Flourens führte in den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts eine neue neurologische Technik ein, die sogenannte Exstirpation, bei der man Tieren Gehirngewebe chirurgisch entfernte und anschließend das Verhalten der Tiere beobachtete. Er stellte fest, dass Wahrnehmung, Gedächtnis und Motorik viel globaler über das Gehirn verteilt waren, als von Gail angenommen. Unabhängige >Fakultäten<, geistige Fähigkeiten, hatte er schon gar nicht entdecken können. Der Neurologe und der gläubige Katholik in Flourens trafen einander in der glücklichen Auffassung, der menschliche Geist sei eine harmonische und unteilbare Einheit und habe seinen Sitz in einem integrierten Gehirn. Flourens widmete sein Examen de la phrenologie Descartes.

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