Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
erforderte eine so große Untersuchungsgruppe, wie sie in Friedenszeiten schlichtweg nicht zur Verfügung stand.
Nach der Demobilisierung der Armeen, die während des Zweiten Weltkriegs auf den Beinen gewesen waren, traten in der neurologischen Literatur neue Heere an. Sie hatten ihre Verwundungen überlebt, allerdings um den Preis von Invalidität oder
Behinderungen. Diese Heere marschierten nicht mehr, sie lagen im Bett oder schleppten sich auf Krücken dahin. Sie waren apha-sisch oder blind, gelähmt oder spastisch, taub oder epileptisch. Vieles, was an Wissen über die neurologische Topographie von Funktionen gesammelt wurde, war eine Folge von Schuß- oder Handgranatenverletzungen. In relativ kurzer Zeit wurden Theorien widerlegt oder korrigiert, die manchmal fast ein Jahrhundert lang zum Bestand des allgemein akzeptierten neurologischen Wissens gehört hatten. Zwischen 1943 und 1945 untersuchte der deutsche Neurologe Klaus Conrad in einem Kriegslazarett für Männer mit Gehirnschäden gut 800 Patienten. 25 In nahezu allen Fällen rührten die Verletzungen von Kugeln oder Granatsplittern her, so dass sich der neurologische Schaden mittels Röntgenaufnahmen einfach lokalisieren ließ. Rund 200 Patienten waren aufgrund der Verletzung aphasisch, manchmal vorübergehend, viele aber bleibend. Bei den aphasischen Rec/ifshändern lag die Verwundung bis auf einige wenige unklare Fälle in der linken Gehirnhälfte. Zu Conrads Überraschung aber zeigte sich, dass bei etwas über der Hälfte der aphasischen Linkshänder die Verwundung ebenfalls links lag, völlig im Widerspruch zur Broca-Regel.
Aphasie durch Gehirnschaden trat bei einem Viertel von Conrads Patienten auf. Linkshändigkeit war erheblich seltener: sie lag bei nicht einmal sechs Prozent. Die Verbindung von Aphasie und Linkshändigkeit ist sehr selten, und um in dieser Konstellation eine interessante neurologische Regelmäßigkeit zu erkennen, bedarf es sehr vieler Verwundungen, wie sie in Kriegsjahren auftre-ten. Conrad veröffentlichte seine Ergebnisse 1949. Sie bedeuteten das Ende der Spiegeltheorie. Heutzutage gilt als Faustregel, dass bei etwa siebzig Prozent der Linkshänder das Sprachzentrum links liegt, bei fünfzehn Prozent rechts und bei den restlichen fünfzehn Prozent auf links und rechts verteilt.
DIE >SPLENDID SEVENTIES<
Brocas Werk war der Auslöser für neue neurologische Expeditionen. Die deutschen Ärzte Gustav Fritsch und Eduard Hitzig reizten 1870 den freigelegten Cortex von Hunden mit schwachem galvanischem Strom und entdeckten dabei das, was heute als »motorisches Projektionszentrum< bezeichnet wird, jenen Streifen direkt vor der Zentralfurche, der an der Muskelbewegung beteiligt ist. Der Engländer David Ferrier entdeckte 1873 mit derselben Methode - diesmal bei Gehirnen von Affen - das »sensorische Pro-jektionszentrum<, das für die Verarbeitung der sensorischen Informationen verantwortlich ist. Ferrier war es auch, der 1876 vorgeschlagen hatte, Broca mit dem >Broca-Zentrum< zu ehren. 26 Aber die wichtigste Entwicklung in der Aphasieforschung nach Broca geht auf Carl Wernicke zurück. Angeregt von den Entdeckungen von Fritsch und Hitzig, entwarf Wernicke - zu diesem Zeitpunkt sechsundzwanzig Jahre alt und Assistenzarzt im Allerheiligen-Hospital in Breslau - eine Theorie über Sprachstörungen, die er 1874 als kurze Monographie veröffentlichte. 27 Im Gegensatz zu Broca stützte Wernicke seine Theorie in erster Linie nicht auf Untersuchungen von Verletzungen, sondern auf das, was mittlerweile über die neurologische Repräsentation der Funktionen bekannt war. Nach Wernicke ruft ein gesprochenes Wort ein »Klang-bild< auf, das über Assoziationen mit der Bedeutung des Wortes verbunden wird. Die Vorstellung der Bedeutung ihrerseits löst ein >Bewegungsbild< aus. Wenn man annehme, so Wernicke, der Gehirnbereich vor der Zentralfurche erfülle motorische Aufgaben und der Teil dahinter sei für die Verarbeitung sensorischer Informationen verantwortlich, dann gebe es zwei Arten von Aphasie: die motorische (oder expressive) Aphasie, die Broca entdeckt habe, und eine sensorische (oder rezeptive) Aphasie. Für die zweite Form machte Wernicke ein Gebiet im linken Schläfenlappen verantwortlich, das später nach ihm benannt werden sollte. Bis heute werden Aphasien nach diesen beiden Formen unterschieden: Ein Patient mit der Broca-Aphasie versteht das gesprochene Wort, kann innerlich auch darauf antworten, ihm fehlt jedoch die Fähigkeit, es zu
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