Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Entdeckungen aus einer Zeit, in der man auf See zwar die geographische Breite - die Nord-Süd-Position - exakt bestimmen konnte, nicht aber die geographische Länge. War der Entdecker wieder abgesegelt, konnte eine nicht allzu große Insel nur wiedergefunden werden, indem man auf der richtigen Breite ein ganzes Stück in ost-westlicher Richtung suchte. Kolumbus soll niedergeschlagen geklagt haben, welchen Sinn es mache, Länder zu entdecken, wenn sie danach doch wieder verloren gingen. Marc Dax war wieder in See gestochen, ohne die Koordinaten seiner Entdeckung den geltenden Regeln entsprechend festzulegen.
Broca hingegen hielt sich genau an die Regeln: Mit seinen Veröffentlichungen in den Zeitschriften der Gesellschaften informierte er die wissenschaftlichen Kreise genauestens über den Stand der Dinge, wobei er seine Erkenntnisse nach einer anerkannten Methode sammelte: Autopsien - und zwar so viele wie möglich. Zudem genoss Broca den Vorteil eines bereits gefestigten Rufes. In seinen Berichten schwang sozusagen sein früheres Werk mit, was ihm eine Autorität verlieh, die Vater und Sohn Dax fehlte. Aber als Entdecker der linkshemisphärischen Dominanz für Sprache kann man ihn schwerlich bezeichnen, ganz sicher noch nicht im Jahr 1861. Dass er eine Gehirnverletzung in einem Gebiet identifiziert hatte, das man heute als >Broca-Zentrum< bezeichnet, ist in gewissem Sinn ein bizarrer Zufall: Brocas Ansicht nach hätte sie sich ebenso gut auf der anderen Seite befinden können. Selbst den zweiten Fall, Lelong, mit der Verletzung an genau der gleichen Stelle, hatte er noch dem »reinen Zufall« zugeschrieben. Erst zwei Jahre und acht Autopsien später wurde ihm allmählich klar, dass jene Position auf der linken Seite nun gerade die Quintessenz seiner >Entdeckung< war.
Die Neurologiehistoriker Finger und Roe haben vor nicht allzu langer Zeit einen weiteren Kandidaten ins Spiel gebracht. 23 Obgleich er die ganze Zeit in der Nähe war, könnte man ihn leicht übersehen: Gustave Dax. Finger und Roe schreiben, Gustave Dax sei nach Brocas Präsentation im Jahr 1861 wahrscheinlich der einzige Arzt gewesen, der begriffen habe, dass bei der neurologischen Repräsentation der Sprache Bichats Symmetriethese nicht aufgehen konnte. Aber wichtiger noch: Gustave situierte das Gebiet der Sprachstörungen nicht im Frontallappen wie Broca, sondern weiter hinten, im Temporallappen. Es ist fast tragisch, dass auch diese Entdeckung in der Geschichte der Neurologie mit einem anderen Namen verbunden wurde: mit dem des jungen deutschen Neurologen Carl Wernicke. Gustave Dax veröffentlichte seine Befunde 1865, Wernicke erst 1874, doch Priorität hatte schon seinem Vater nichts genutzt.
DIE BROCA-REGEL
Brocas Artikel aus dem Jahr 1865 ging als erste überzeugende Formulierung zerebraler Asymmetrie in die Geschichte ein. Doch innerhalb dieser Asymmetrie verbargen sich noch einige Hypothesen, die verraten, wie schwierig es war, das symmetrische Denken ganz aufzugeben. Broca war der Auffassung, bei der Geburt seien die linke und die rechte Gehirnhälfte vollkommen gleichwertig; beide Hälften seien in gleicher Art und Weise in der Lage, die Sprachfunktion zu erfüllen, ursprünglich sei das Gehirn also ein symmetrisches Organ. Weil jedoch der linke Frontallappen in den ersten Jahren etwas schneller wachse als der rechte, entstehe bei den meisten Menschen eine Rechtshändigkeit, während Sprache in der linken Hemisphäre repräsentiert werde. Bei einer Minderheit, so Broca weiter, sei es gerade umgekehrt: sie seien linkshändig und rechtshemisphärisch. Für diese >Spiegeltheorie< der Beziehung zwischen der Händigkeit und dem Ort des Sprachzentrums konnte sich Broca zu diesem Zeitpunkt noch auf fast keine statistischen Daten stützen, denn bis dahin hatte niemand einen Grund gesehen, einen solchen Zusammenhang zu vermuten und bei Patienten zu registrieren, ob sie links- oder rechtshändig waren. Im Verlauf seines Artikels relativierte Broca die Beziehung zwischen Sprachzentrum und Händigkeit, was jedoch nicht verhindern konnte, dass Neurologen von nun an die >Broca-Regel< anwendeten, nach der das Sprachzentrum der Handpräferenz gegenüber lag, bei Linkshändern also rechts. 24 Offensichtlich übte die Symmetrie eine solch große Anziehungskraft aus, dass der Gedanke, bei einem Teil der Linkshänder könne das Sprachzentrum auch links liegen, gar nicht erst aufkam. Die Broca-Regel konnte sich fast ein Jahrhundert lang halten. Ihre Korrektur
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