Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
äußern. Ein Patient mit der Wernicke-Aphasie kann zwar Sprache hervorbringen, ist aber nicht mehr in der Lage, diese Sprache auch zu verstehen. Auch die Gebärdensprache Gehörloser folgt dieser Einteilung: Eine Schädigung des Broca-Zentrums legt nicht die Motorik, sondern die Bedeutung der Gebärden lahm. >Reine< Broca- oder Wernicke-Aphasien sind übrigens äußerst selten, in der klinischen Praxis sind Mischformen die Regel.
In der Neurologie gelten die Siebzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts als die »Splendid Seventies<. Mit der Entdeckung der beiden >Sprachzentren< tauchte die Frage auf, ob Funktionen wie Schreiben, Lesen oder Rechnen nicht auch ein je eigenes >Zen-trum< hätten. In dieser Zeit entstanden jene Schemata und Diagramme, die die unterschiedlichsten Störungen mit einem neurologischen Substrat zu verbinden suchten. 1871 erhielt der Verlust der Fertigkeit, Körperteile so zu bewegen, dass man damit eine Handlung ausführen kann, den Namen >Apraxie<, und schon bald folgten >Alexie< (lesen), >Agraphie< (schreiben), >Amusie< (Musik) und >Akalkulie< (rechnen). Wie Aphasie kennen diese Störungen eine expressive und eine rezeptive Variante, doch auch hierbei treten meist Mischformen auf. Ein berühmter Fall von Amusie lag bei Maurice Ravel vor. 1932 erlitt er durch einen Autounfall einen Gehirnschaden, der sich kontinuierlich verschlimmerte und schließlich in eine Kombination aus Aphasie und Amusie mündete. 28 Ra-vels Fähigkeit, Musik zu erkennen und zu beurteilen, blieb intakt, doch die Ausdrucksfähigkeit war ernstlich gestört: Er konnte nicht mehr vom Blatt Klavier spielen oder Musik komponieren. Sein Fall war insofern interessant, als man lange Zeit geglaubt hatte, Musikhören oder -spielen sei hauptsächlich eine Angelegenheit der rechten Hemisphäre, während bei dem Rechtshänder Ravel der Gehirnschaden gerade links lag. Das besondere Muster dessen, was bei ihm beeinträchtigt oder verschont geblieben war, legte den Schluss nahe, dass sich die musikalische Ausdrucksfähigkeit zum Teil derselben Prozesse bedient, die auch bei der Sprache beteiligt sind. Musik verlangt wie Sprache genaue Koordination in der Zeit, und dafür ist die linke Hemisphäre verantwortlich.
ZIVILISIERTE ASYMMETRIE
Wo heute der Boulevard Henri IV. verläuft, lag früher das Cöles-tinerkloster, das zum Benediktinerorden gehörte. Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts war die religiöse Gemeinschaft auseinandergefallen und aufgelöst worden. Das Kloster wurde 1785 geräumt und vier Jahre später, nach der Französischen Revolution, abgerissen. Beim Bau des Boulevards im Jahr 1847 entdeckte man auf dem ehemaligen Klosterfriedhof Sarkophage aus dem zwölften Jahrhundert. Die siebenhundert Jahre alten Skelette weckten das Interesse Brocas, der zu diesem Zeitpunkt noch ein dreiund-zwanzigjähriger Koassistent im Krankenhaus Hötel-Dieu war. Er schaffte es, sich zum Aufseher der Ausgrabungen ernennen zu lassen, und nutzte die Gelegenheit, um die Schädel zu messen. Das war der Auftakt zu einem lebenslangen und nahezu besessenen kraniometrischen Feldzug. Broca hoffte, mittels Schädel- und Gehirnmessungen eine Theorie zu formulieren, die dem Menschen seinen Ort zuweisen konnte: im Universum, in seiner Existenz 1 als soziales Wesen, in seinem persönlichen Leben - und in der Geschichte. Broca war davon überzeugt, dass der Umfang des menschlichen Gehirns im Laufe der Jahrhunderte zugenommen hatte, parallel zum - und veranlasst durch den - Vormarsch der europäischen Zivilisation. 1862 legte er die Ergebnisse seiner umfangreichen Untersuchungen vor, in deren Zuge er die 116 Schädel des Cölestinerfriedhofes mit Schädeln von zwei Friedhöfen aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts verglichen hatte. 29 Der Paläontologe Stephen Jay Gould seinerseits hat Brocas Untersuchungen ausgegraben, um zu zeigen, dass dieser seine kraniometrischen Befunde jeweils so interpretiert hatte, dass sie seine Theorie des stetig wachsenden europäischen Gehirns bestätigten, was Gould als »the great circle route« bezeichnete, bei der die Schlussfolgerungen den Ausgangspunkt bildeten, die Interpretation der Befunde bestimmten und schließlich von den Befunden wiederum gestützt wurden. 30
Broca maß gewissenhaft die Schädelinhalte und ermittelte dabei folgende Durchschnittswerte: zwölftes Jahrhundert: 1426
cm 3 , achtzehntes Jahrhundert: 1409 cm 3 , neunzehntes Jahrhundert: 1462 cm 3 . Das Problem ist klar: nicht die ältesten,
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