Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
für Arme und ein von der Kirche unabhängiges Ausbildungssystem für Frauen ein. Broca war ausgesprochen antiklerikal und hatte wegen seiner Ansichten über den Ursprung des Menschen erbitterte Hasskampagnen über sich ergehen lassen müssen. Auf seine eigene säkulare Art glaubte er an einen von biologischen Faktoren gesteuerten Fortschritt. Die Gehirne von Frauen und unzivilisierten Völkern hatten einen kleineren Umfang, wie Messungen unumstößlich bewiesen hatten, aber das hieß nicht, dass sie im Laufe der Evolution nicht wachsen konnten. Die Zivilisation — zumindest die europäische - konnte dabei eine wichtige Rolle spielen: Je höher die Anforderungen, die das Unterrichtswesen an unsere Gehirne stellte, desto schneller würden sie sich entwickeln. Wenn schon zwischen dem zwölften Jahrhundert der Cölestiner und jetzt einige Dutzend Kubikzentimeter hinzugekommen waren und man außerdem wusste, welche Faktoren das Wachstum des menschlichen Gehirns förderten, waren es Wissenschaften wie die Neurologie und die physische Anthropologie, die den Weg zur wahren Zivilisation wiesen. Vielleicht führte kein direkter Weg von der Autopsie zur Utopie, aber Broca sah in seiner Untersuchung des »Inhalts von Pariser Schädeln in unterschiedlichen Perioden« mehr als nur eine Zunahme in Kubikzentimetern. In dieser Zunahme spiegelte sich für ihn auch das Aufkommen von Kunst, Literatur, Rechtsprechung, Wissenschaft, Geschäftigkeit und all dem, was den Pariser seiner Tage von seinen Stadtgenossen primitiverer Zeiten unterscheiden mochte. Es ist bezeichnend für Brocas persönliches Engagement, dass seine Unterschrift auf der Satzung einer soundsovielten Gesellschaft auftaucht, auch wenn diese Gesellschaft - die Societe dAutopsie Mutelle - erst nach seinem Leben eine Rolle spielen sollte. Die Mitglieder stellten ihren Körper der Wissenschaft zur Verfügung, in casu ihren Kollegen. 33
Es wird Broca mit Stolz erfüllt haben, dass sich innerhalb der physischen Anthropologie rund um seine Person eine Pariser Schule herausgebildet hatte. Was jedoch nach Broca die Voraussetzung für diesen Erfolg war - die exakte Messung, die so mechanisch wie möglich ist, gefolgt von der uneigennützigen, unparteiischen Interpretation -, ist nach Gould und anderen Kritikern gerade der Ursprung des Scheiterns. Diese Unparteilichkeit gab es nicht. Noch ehe die Schädel in den Stereographen oder Craniopla-giometer geklemmt wurden, schimmerte durch die Formulierung der Frage bereits die Voreingenommenheit des Untersuchenden. Ist der Stirnlappen der Frau genauso groß wie der des Mannes? Findet eine niedrigere Zivilisationsstufe ihre Entsprechung im geringeren Umfang der Stirnlappen? Die Antworten auf diese Fragen lagen durch eine geheimnisvolle Gravitation immer wieder in der Verlängerung der Meinungen, die zivilisierte, wissenschaftlich aufgeklärte Bürger sowieso längst vertraten.
Gould hat in seiner Analyse immer wieder auf die methodologischen Fehler hingewiesen, die Broca unterlaufen sein sollen: keine >blinden< Messungen, keine Kontrollbedingungen. Doch dieser Vorwurf wird Brocas Versuch nicht gerecht, die Messungen gerade so weit wie möglich menschlicher Einflussnahme zu entziehen. Indem er die Aufzeichnung Instrumenten überließ, hoffte er, jede Form der Parteilichkeit auszuschließen, und in gewissem Sinne ist es ein tragisches Moment seines Lebenswerkes, dass sich diese Parteilichkeit an ganz anderer Stelle wieder einschlich. Der Vorwurf charakterisiert übrigens Gould selbst als Aufklärungsdenker: Sobald es Forschern gelingt, methodologische Fehler zu
Abguss von Brocas Gehirn. Die Inschrift befindet sich auf dem Broca-Zentrum.
vermeiden - so die Annahme werden ihre Ergebnisse die Vorurteile nicht mehr bestätigen, sondern widerlegen. Genau das jedoch war es, was Broca von seiner Wissenschaft erwartete.
Paul Broca starb am 7. Juli 1880 an Herzversagen. Er war gerade 56 Jahre geworden. In den Jahren zuvor hatten mehrfach Mitglieder der Societe d’Autopsie Mutuelle auf seinem Sektionstisch gelegen. Nun war es an ihm, der Anthropologie einen letzten Dienst zu erweisen. Brocas Laborassistent Chudzinski löste das Gehirn aus dem Schädel seines Vorgesetzten und machte einen Abdruck von ihm. Das Gehirn legte er in Alkohol. Der Abdruck kam mit der Gravur P. BROCA über der dritten Windung des linken Frontallappens in die Sammlung der Anatomieabteilung der Universität von Paris. Sieben Jahre nach seinem Tod erhob sich auf der
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