Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
diesen Messungen - und den statistischen Techniken, mit denen sie geordnet wurden - war Broca zweifellos auf der Suche nach Objektivität, und er glaubte tatsächlich, diese gefunden zu haben. »Beobachtungen stehen über Theorien«, ist in fast all seinen Artikeln zu lesen. In diesem Sinne galt es auch Fragen wie die nach den geistigen Fähigkeiten von Frauen oder der Gehirngröße »primitiven Völker zu untersuchen. Vom Einsatz der Cephalometer, Cranioplagiometer, Cranioskope, Endometer, En-dographen, Tachycraniographen, Goniometer und Tropometer versprach sich Broca ein Ausmerzen von Vorurteilen. In Wirklichkeit jedoch landete jede Messung in einer delikaten Verhandlung aus Genauigkeit und Spielraum, wobei die Ergebnisse die existierenden Auffassungen mit objektiven, wissenschaftlichen Argumenten untermauerten.
Dasselbe Muster findet sich auch bei Brocas Untersuchungen der Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hemisphäre: Dass sich Sprache ein oder zwei Jahre nach der Geburt in der linken Gehirnhälfte lokalisiert, war für ihn die Folge des kleinen Wachstumsvorsprungs der linken Seite. Danach aber ist es der Mensch, der dieser Gehirnhälfte durch Unterricht einen immer weiteren Vorsprung verleiht. So betrachtet war Asymmetrie gerade ein Zeichen für Entwicklung und Training, von Zivilisation. Sogar bei wilden oder gezähmten Tieren war dieser Unterschied zu erkennen. Das Gehirn eines Fuchses, schrieb Broca, sei nahezu vollkommen symmetrisch. Das eines Hundes, bereits seit Jahrhunderten von Menschen abgerichtet, hingegen asymmetrisch (als Lamarck-Anhänger glaubte Broca an die Erblichkeit erworbener Eigenschaften). Seiner Ansicht nach waren jedoch nicht alle menschlichen Gehirne gleich asymmetrisch entwicklungsfähig. 1869 erklärte er vor der Societe dAnthropologie, die Gehirne weißer Europäer wiesen die größte Asymmetrie auf, Frauen bereits eine geringere und >primitive< Völker und niedere Tiere die geringste. Die Neurologiehistorikerin Anne Harrington hat dokumentiert, wie gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Anthropologen in der von Broca gewiesenen Richtung die linke Hemisphäre zur dominanten Gehirnhälfte machten, die Gehirnhälfte also, in der alle menschlichen, sozialen und wissenschaftlichen Tugenden versammelt waren: Mäßigkeit, Vernunft, Logik, Willenskraft. 32 Die rechte Hemisphäre war ihr untergeordnet, und das war gut so, denn darin hausten tierisches Verhalten, Instinkt, Anfälligkeiten für Verhaltensstörungen, Anlagen für Kriminalität, Impulsivität. Es ist fast überflüssig, zu erwähnen, dass die linke zur >männlichen<, die rechte zur >weiblichen< Gehirnhälfte wurde. Viele der Befunde, die diese Rollenverteilung untermauern sollten, hatte Broca zusammengetragen.
Es wäre zu einfach, wenn man behauptete, Broca sei in den Vorurteilen seiner Zeit gefangen gewesen. Er war auch einer ihrer Architekten. Buchstäblich Tausende von Gehirnen und Schädeln hatte er in Händen, um sie zu vermessen und zu wiegen, und immer wieder fand er bei Volumen, Gewicht und Umfang jene Relationen, die zu den damaligen Ansichten über die Intelligenz von Frauen und Männern oder die von >hohen< und >niedrigen< Rassen passten. Broca fand in den 1200, 1300 cm 3 Gehirngewebe jene neurologischen Argumente, welche dazu dienten, die Chancen auf universitäre Ausbildungen von Frauen zu beschränken und von der Selbstverwaltung >primitiver< Völker abzuraten. Seine Befunde schlossen den Kreis: Mit der führenden linken und der gefügigen rechten Hemisphäre reproduzierte er auf zerebraler Ebene die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen Männern und Frauen.
DIE GESELLSCHAFT FÜR GEGENSEITIGE AUTOPSIE
Es ist schwierig, eineinhalb Jahrhunderte später Brocas politischgesellschaftliche Position zu bestimmen und mit modernen Koordinaten wie >links< oder >rechts< mag das erst recht nicht gelingen. Zuallererst lässt sich eine Diskrepanz zwischen seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen und seinen liberalen Ansichten feststellen: Derselbe Mann, der Frauen und >primitive< Völker auf eine niedrigere Stufe der Entwicklungsleiter stellte, gründete 1848 eine Freidenkergesellschaft und begrüßte im selben Jahr aus vollem Herzen die Republik, die buchstäblich vom einen auf den anderen Tag entstanden war. In seinem Krankenhaus ließ er schon ab 1870 Frauen auf Assistenzstellen zu, zeigte sich reformwillig, als er 1880 in den Senat berufen wurde, und setzte sich für eine bessere Gesundheitsfürsorge
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