Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
sondern die Schädel aus dem achtzehnten Jahrhundert waren die kleinsten. Wie war das zu erklären? Die Antwort fand Broca, indem er die Schädel des neunzehnten Jahrhunderts in zwei Gruppen unterteilte: 90 Schädel stammten nämlich aus Einzelgräbern, die übrigen aus einem Massengrab (35). Hinsichtlich ihres Inhalts unterschieden sie sich erheblich: 1484 cm 3 gegenüber 1403 cm 3 zugunsten der im Schnitt reicheren und - so Broca - deshalb wohl auch intelligenteren Toten aus den Einzelgräbern. Der Grund für die seltsame Diskrepanz zwischen den Schädeln aus dem zwölften Jahrhundert und den kleineren Schädeln aus dem achtzehnten Jahrhundert konnte für Broca nur folgender sein: Nur die Elite konnte sich in einem Sarkophag beisetzen lassen. Zugleich entstand damit aber ein neues Problem, denn wie war es möglich, dass die Schädel aus einem Massengrab des achtzehnten Jahrhunderts größer waren (1409 cm 3 ) als die aus einem Massengrab des neunzehnten Jahrhunderts (1403 cm 3 )? Erneut fand Broca die Lösung in der Zugehörigkeit zur jeweiligen sozialen Klasse. Im achtzehnten Jahrhundert, vor der Französischen Revolution, musste man noch reich sein, um auf einem Friedhof begraben zu werden. Anders ausgedrückt: Die Armen des neunzehnten Jahrhunderts befanden sich qua Schädelinhalt auf dem Niveau der Reichen des Jahrhunderts zuvor. Die Schlussfolgerung dieser (noch viel längeren) Exerzierübung war, dass die Ergebnisse 1426-1409-1462 cm 3
- vorausgesetzt, man schaute lange genug darauf - trotz des scheinbaren Gegenteils wirklich eine aufsteigende Reihe aufwiesen. Für Broca stand nun unumstößlich und objektiv fest, dass die Einwohner von Paris in den vergangenen Jahren stets größere Gehirne bekommen hatten.
Broca konnte mit >Korrekturen< zaubern. Gratiolet, der wie Broca Mitglied der Societe dAnthropologie war, hatte bereits durch Messungen festgestellt, dass deutsche Gehirne im Durchschnitt etwa 100 Gramm schwerer waren als das durchschnittliche Franzosengehirn, und er sah darin das entscheidende Argument gegen einen positiven Zusammenhang zwischen Schädelumfang und Intelligenz. Broca machte sich an umfangreiche vergleichende Untersuchungen, maß aufs Gramm genau die Gehirne und ergänzte die Ergebnisse mit Korrekturen für Altersunterschiede und nationalen Unterschieden hinsichtlich des Körpergewichts. Das Endergebnis war, dass die französischen Gehirne, obwohl sie leichter als die deutschen waren, genau genommen doch schwerer wogen.
In seiner Zeit ehrte man Broca als den Mann, der die physische Anthropologie zu einer Wissenschaft aus Maßen und Zahlen gemacht hatte. In einem 1888 erschienenen Standardwerk über anthropologische Methoden und Techniken sind vierzig Instrumente und Messmethoden aufgeführt; allein neunzehn sind von Broca entworfen. 31 Die Eponyme >Broca-Zentrum< und >Broca-Aphasie< stammen von einer einst viel längeren Ehrenliste. Die meisten anderen wie der >Broca-Winkel<, der >Broca-Stereograph< und die >Broca-Fläche< markieren seine Stellung als führender Forscher auf dem Gebiet der physischen Anthropologie. Broca strebte danach, Messungen dem subjektiven menschlichen Urteil so weit wie möglich zu entziehen: je mehr Beobachtung dem Instrument selbst überlassen werden konnte, desto besser. Diese Ambition materialisierte sich im >Broca-Stereo-graph<, in dem der Schädel mit Schrauben in beiden Gehörgängen fixiert wurde. Danach zog der Anthropologe einen Bügel mit einem Zeichenstift über den Schädel, so dass dessen Form auf ein Blatt Papier kopiert werden konnte, das hinter den Schädel gespannt war. Auf Papier übertragen, ließen sich die unterschiedlichsten Messungen auf der Fläche durchführen: Je nach der Schädelposition in den Klemmen konnte man den Abstand zwischen
Mit dem »Broca-Stereographen« konnte der Umriss des Schädels auf ebener Fläche festgehalten werden.
Stirn und Hinterkopf messen, die Höhe und die Wölbung der Stirn, den Kieferumfang im Verhältnis zur Stirn und all die anderen Maße, die als quantitative Argumente bei der Kontroverse über die Unterschiede zwischen Menschen, Geschlechtern und Rassen ins Feld geführt wurden. Wesentlich war, dass die Aufzeichnung der Messungen mit geringstmöglicher Intervention des Untersuchenden erfolgte: War der Schädel im Apparat fixiert, projizierte er sich von selbst auf Papier. Diese Ideologie der interventionsfreien Messung wurde bis in die Kataloge von Instru-menten-Werkstätten propagiert.
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