Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
fast eine Tracht Prügel von Kindern eingehandelt hatte, die dachten, sein wiederholter Ausruf »Scheißkerl!« sei auf sie gemünzt. Es gab den Jungen, der 1870 während der deutschen Belagerung von Paris miterlebt hatte, wie direkt neben ihm eine Granate explodierte, die seinen Freund tötete; seither machte er ängstliche, krampfhafte Bewegungen. Da war ein fünfzehnjähriges Mädchen aus einer untadeligen Familie (doch mit einer »tante bizarre, presque alienee«), das immer »Scher dich zum Teufel, Idiot!« rief, zum Erstaunen ihrer Familie: Woher hatte sie nur diese Flüche und Schimpfworte? 17 Wenn es unbedingt sein musste, konnte sie sich kurz beherrschen, aber danach suchte sie einen stillen Ort auf, um sich zu entladen. Andere Patienten zwinkerten übermäßig mit den Augen, sprangen plötzlich auf, streckten die Zunge heraus, stießen Schreie aus oder bellten. Keiner hatte alle Symptome, doch aus dem Krankheitsbild entstand eine klare Typologie, wobei die Betonung auf den merkwürdigen Tics lag.
Für Gilles de la Tourette stand fest, dass die Krankheit einen erblichen Ursprung hatte. Bei einem der Patienten war die Mutter während der Schwangerschaft in einem »seltsamen Geisteszustand« gewesen, bei einem anderen Patienten war die Rede von Großeltern mit Migräne, wieder ein anderer hatte einen sehr nervösen Vater und eine Schwester mit ähnlichen Tics, und dann gab es natürlich noch dieses Mädchen mit der seltsamen Tante. 18 Nicht weniger als fünf der neun Patienten kamen aus einer mit Nervenkrankheiten belasteten Familie. Die Tics traten nur im Schlaf nicht auf. Dieser Schlaf, stellte Gilles de la Tourette fest, war auffällig gut und tief, vielleicht gerade, weil die Tics tagsüber so viel Energie erforderten. Manche Patienten konnten ihre Tics für kurze Zeit unterdrücken. Sein Patient Ch. war ein Beamter, der seine Klienten in ihrem eigenen Büro aufsuchte. Wenn die Unterhaltung nicht zu lange dauerte, konnte er seine Tics unterdrücken. Sobald er wieder draußen stand, kamen sie in aller Heftigkeit zurück und die Klienten sahen ihn vor dem Haus, das er gerade verlassen hatte, auf- und abspringen.
Genauso auffällig war die nicht zu unterdrückende Neigung zur Nachahmung, nicht nur dessen, was gerade gesagt wurde, sondern auch von Geräuschen, Bewegungen und Gebärden. Man konnte die Patienten in die Hände klatschen lassen, indem man selbst unerwartet diese Geste ausführte, oder sie dazu bewegen, ihre Jacke auszuziehen, indem man die eigene ablegte. Auf einem
Innenhof von La Salpetriere hatte Gilles de la Tourette gesehen, wie manche diesen Imitationszwang missbrauchten. Einer der Patienten war auf S. zugegangen, hatte den rechten Arm und das rechte Bein gehoben und war auf seinem linken Fuß herumgehüpft. S. hatte die Bewegungen so wild nachgeahmt, dass er hinfiel. Die Pfleger mussten die beiden trennen, um dem gefährlichen Spiel ein Ende zu bereiten. Auch anderen war der Nachahmungszwang aufgefallen. Ein Marineoffizier berichtete von einem Steward, der das hilflose Opfer von Passagieren wurde, die knurrende Geräusche von sich gaben, unverhofft in die Hände klatschten oder plötzlich ihren Hut aufs Deck warfen.
Das letzte Symptom, das auftritt, ist die Koprolalie, das Schimpfen, Fluchen und Schreien von Obszönitäten. Wo die Ursache hierfür liegen konnte, war Gilles de la Tourette wirklich ein Rätsel. Dass ein neunzehnjähriger Bursche obszöne Fantasien hätte und diese in Worte umsetze, so schrieb er, könne er ja noch verstehen, aber dass auch Frauen, junge Mädchen und wohlerzogene Jungen ordinäre Worte riefen, dafür fehle jegliche Erklärung. Fünf seiner neun Patienten litten an Koprolalie. Genau wie die Echolalie erklangen die Obszönitäten, wenn die Tics am heftigsten waren, auf dem Höhepunkt der Spannung.
Gilles de la Tourette hielt die Krankheit für unheilbar, sie sei »ein elender Gefährte für das ganze Leben«. 19 Das war eine recht wilde Generalisierung, denn sein einziger Beleg dafür war, dass sie bei der Marquise nicht mehr verschwunden war. Der älteste seiner eigenen Patienten war vierundzwanzig Jahre alt. Der Krankheitsverlauf war progressiv bei einem launenhaften Wechsel von milden Episoden und Verschlechterungen. Mit der heftigsten Form der Krankheit war das Leben für den Patienten fast unerträglich, Ausbildung und Arbeit wurden erschwert, aber es gab zum Glück auch leichtere Formen, und sogar in ihrer extremsten Form gab es Phasen, in denen die
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