Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Symptome abflauten und es dem Patienten gelang, mehr oder weniger normal zu leben: »Seine Freunde und Nachbarn gewöhnen sich oft an die unwillkürlichen Obszönitäten; so blieb ein Leutnant ganz normal im Dienst, trotz seines ständigen unwillkürlichen Fluchens.« 20
Charcot war von der Untersuchung seines Schülers sehr angetan. Er unterschrieb den neurologischen Ursprung der Störung. Bei hysterischen Patienten hatte er selbst auch schon manchmal seltsame Tics bemerkt, aber die konnte er durch Hypnose verschwinden lassen. Bei den Tics der Patienten von Gilles de la Tourette gelang das nicht. Charcot schlug vor, >la maladie des tics convulsifs< fortan >la maladie des tics de Gilles de la Tourette< zu nennen. Später wurde es zum >Gilles-de-la-Tourette-Syndrom<, in der angelsächsischen und deutschen Literatur abgekürzt zum >Tourette-Syndrom< (TS). Dass Jean Marc Itard als Erster diese Störung beschrieben hatte, war Charcot selbstverständlich bekannt. Warum wurde nicht er mit einem Epo-nym geehrt? Es ist zu einfach, zu sagen, Itard sei nun einmal kein Schüler Charcots gewesen und im Übrigen auch schon lange tot. Auch Hughlings Jackson war kein Schüler Charcots und Parkinson war schon über ein halbes Jahrhundert tot, als Charcot ihm das Eponym verlieh. Charcot ließ sich in seiner Auszeichnungspolitik nicht durch diese Art von Chauvinismus leiten. Er muss in der Arbeit Gilles de la Tourettes den Versuch anerkannt haben, eine spezifische Kategorie motorischer und verbaler Tics gegen andere Bewegungsstörungen abzugrenzen. Und selbstverständlich definierte Charcot mit der Verleihung des Eponyms en passant die Grenzen der Erkrankung gemäß seiner eigenen Auffassung.
BEKENNTNISSE EINES TIQUEURS
Georges Gilles de la Tourette, stehend hinter Jean-Martin Charcot
Am Ende seines Artikels schrieb Gilles de la Tourette: »In Bezug auf die zugrunde liegende Schädigung haben wir keine anatomische oder pathologische Ursache finden können. Man könnte da-
nach trachten, einige Symptome psychologisch zu interpretieren, und wer sich der Störung von diesem Gesichtspunkt aus nähern möchte, den verweisen wir auf das interessante Buch des Herrn Ribot, Les maladies de la volonte. « n Theodule Ribot, Hochschullehrer am College de France, war der bekannteste französische Repräsentant der Degenerationstheorie, und sein Buch über die »Krankheiten des Willens« war 1883 erschienen. 22 >Degeneration<
- der Begriff wurde im Geburtsjahr Gilles de la Tourettes von Morel eingeführt - konnte sich in einer Vielfalt von Symptomen äußern, wie zurückgebliebenen geistigen Fähigkeiten, Hysterie und Epilepsie, aber auch gesteigerter Impulsivität und Willensschwäche. Letztere spielte dieser Theorie zufolge den Patienten von Gilles de la Tourette Streiche: Ihre Tics, Schreie und Flüche brachen aus ihnen hervor, weil ihre Willensfunktion nicht mehr intakt war. Sie konnten ihre Impulse schlichtweg nicht mehr beherrschen.
Damit verließ das Tourette-Syndrom das Gebiet der Neurologie und geriet auf ein Gleis, das es bis in die Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr verlassen sollte: das der Psychiatrie und Psychologie. Der definitive Spurwechsel war in einem Buch der Ärzte Meige und Feindei vollzogen worden, das 1902 erschien: Les tics et leur traitement. 13
Es begann mit einem kuriosen Dokument. Die Autoren hatten ihre Studie bereits abgeschlossen, als einer von ihnen mit einem >Modell-Tiqueur< in Kontakt kam, einem »leibhaftigen Kompendium fast aller Arten des Tics«. 24 Dieser Patient, Herr O., hatte in langen, freimütigen Gesprächen seine eigene Geschichte beschrieben, und den Bericht darüber nahmen Meige und Feindei unter dem Titel »Les confidences d’un tiqueur« in ihr Einführungskapitel auf. Es ist ein enthüllender Bericht, nicht so sehr aufgrund der >Bekenntnisse< O.s, sondern durch den Untertext, der zeigt, wie ein Patient mit Tics in dieser Zeit seine eigene Störung interpretierte. Tatsächlich hat er in seinem Selbstporträt ein Bild der herrschenden Psychiatrie gezeichnet, auf die Menschen mit seiner Störung trafen.
O. war ein vierundfünfzigjähriger Geschäftsmann mit einem wachen Verstand und einer guten Kondition, er war aktiv und übte verschiedene Sportarten aus. Aber genau wie sein Großvater, sein Bruder und sein Sohn litt er an unbändigen Tics. Die erbliche Belastung war überdeutlich, fügten Meige und Feindei hinzu: Seine Großeltern waren Cousin und Cousine ersten
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