Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
seiner Zeit gemein habe, sei seine »wahrhaft kindliche Verfassung der Psyche« , 28 Sage man ihm, dass er den Mund halten solle, schreie er, sage man ihm, er solle still sitzen, fange er an sich zu bewegen. Maßhalten könne er nicht, ob es nun um Rauchen oder Trinken gehe. Auf Bauchschmerzen reagiere er wie ein »nervöses und schlecht erzogenes Kind«. 29 Auf diesem Nährboden von Infantilität und Willensschwäche könnten psychische Abweichungen aufblühen.
In einer Abhandlung über Psychotherapie prägte der Soziologe de Swaan einmal den Begriff >Protoprofessionalisierung< für die Neigung von Patienten oder Klienten, ihre Beschwerden im Jargon des Fachmanns zu formulieren. 30 Unbemerkt übernehmen sie damit auch die psychiatrische Orientierung derjenigen, die sie behandeln. Dafür ist O.s Bericht ein ergreifendes Beispiel. Er ist in seiner eigenen Wahrnehmung nicht das Opfer einer neurologischen oder organischen Störung, sondern ein Mann, dem es an starkem Willen fehlt. Alles, was er über seine intimsten Impulse und Assoziationen erzählte, ergoss sich in ein zu dieser Zeit bereits tief ausgewaschenes psychiatrisches Bett aus Theorien über die fatalen Folgen der Degeneration für Willenskraft und Beherrschung. O. kam seinen Ärzten mehr als die Hälfte des Weges entgegen. Umgekehrt fühlten sich Meige und Feindei durch O. in ihrer Interpretation legitimiert: Wenn sich ein intelligenter Patient nach einer aufrichtigen und unparteiischen Selbstuntersuchung als willensschwach präsentiert, muss dort das Wesen der Störung liegen. Sie schrieben, sie freuten sich über die »völlige Übereinstimmung« zwischen den Ansichten ihres Modellpatienten und dem, was sie selbst und andere Forscher bei der Untersuchung von Tics festgestellt hatten. 31 Dass es moralisch verwerflich war, an dieser Krankheit zu leiden, darüber müssen sich O. und seine Ärzte so einig gewesen sein, dass es nicht mehr auszumachen ist, wer von ihnen diese Krankengeschichte eigentlich als >Bekenntnis< bezeichnete.
BLUTEGEL, DUSCHBÄDER UND BETTFESSELN
Der Psychiatriehistoriker Howard Kushner hat eine Geschichte des Tourette-Syndroms geschrieben. 32 Sein Buch liest sich an einigen Stellen wie eine Gruselchronik. 1825 hatte Itard in seinem Bericht über die Marquise von Dampierre notiert, er sei auch noch in einem anderen Fall zu Hilfe gerufen worden, ebenfalls zu einer jungen Dame, die seltsame, unwillkürliche Bewegungen machte. Damals habe er mit großen Mengen Hühnerbrühe, zweimal täglich einem dreistündigen Bad und der Anbringung eines Dutzends Blutegel auf ihrer Vagina gute Ergebnisse erzielt. Letztgenannter Bestandteil der Therapie wird mit der Vermutung zu tun gehabt
La Salpetriere verfügte über ein Labor für Elektrotherapie, in dem sich Patienten mit den unterschiedlichsten Leiden Behandlungen mit statischer oder galvanischer Elektrizität unterzogen.
haben, dass eine Störung der Gebärmutter die Ursache ihres Verhaltens war. Auch an den Kindern, die Gilles de la Tourette gesehen hatte, war alles Mögliche ausprobiert worden. Sie mussten Duschbäder aushalten oder waren aufs Land geschickt worden,
um ihre Nerven zu beschwichtigen. Sie bekamen allerlei Sorten Beruhigungsmittel, aber nichts hatte wirklich geholfen. Noch nicht einmal ein >Bad aus statischer Elektrizität - La Salpetriere war vorzüglich ausgestattet für allerlei Arten von Elektrotherapie
- hatte Erleichterung gebracht.
Gilles de la Tourette selbst experimentierte mit erzwungener Isolation und >Hydrotherapie<, darunter eiskalten Duschbädern, musste aber zugeben, eigentlich keine effektive Therapie zu kennen. Gelassen schrieb er, Beard habe mit seinem »Once a jumper, always a jumper« wahrscheinlich recht gehabt. 33 Spätere Generationen von Neurologen und Psychiatern haben das therapeutische Repertoire noch um >Immobilisierung< (lies: Zwangsjacken und Bettfesseln), Lobotomie und Elektroschocks erweitert. An Tou-rette-Patienten wurde herumgeschnitten, man hat sie geschüttelt und geschlagen. Man hat auch viel mit ihnen gesprochen, denn wirklich jede Form von Psychotherapie, von der Psychoanalyse bis zur Verhaltenstherapie, wurde gegen das Tourette-Syndrom aufgefahren — vergebens.
Das Tourette-Syndrom ist auch heute noch ein mysteriöses Leiden. Die Störung beginnt in der Regel im Alter von sieben Jahren mit Grimassen und Augenzwinkern 34 Später kommen motorische Tics hinzu und in schweren Fällen auch das papageienhafte Nachplappern und die
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