Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Untersuchung ging hervor, dass die Frau - die dreißigjährige Rose Kamper - schon einmal in La Salpetriere aufgenommen worden war. Beim Prozess führte Kamper an, sie habe unter Hypnose den Auftrag erhalten, dieses Verbrechen zu begehen. In der französischen Psychiatrie wütete zu dieser Zeit eine Kontroverse über die Frage, ob es tatsächlich so etwas wie >kriminelle Suggestion< gab. Charcot und Gilles de la Tourette waren dieser Frage auf experimentellem Wege nachgegangen: Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Patienten unter Hypnose nicht zu kriminellen Handlungen zu bewegen waren - ihr moralisches Urteilsvermögen blieb intakt. Gilles de la Tourette war der wichtigste Wortführer der Pariser Auffassung. Gerade zwei Tage vor dem Anschlag hatte er in einem Zeitungsinterview noch gesagt, er habe seine Gegner bereits seit 1887 dazu aufgefordert, ihm auch nur ein einziges Beispiel zu nennen, bei dem jemand unter solcher Art von Beeinflussung ein Verbrechen begangen habe. Nun schien es, als habe dieses eine Beispiel an seiner Tür geläutet.
1893 verübte Rose Kamper einen misslungenen Mordanschlag auf Gilles de la Tourette.
Die gerichtliche Voruntersuchung ergab aber, dass Hypnose überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Die Richter folgten daher auch nicht Rose Kampers Verteidigung. Sie wurde für unzurechnungsfähig erklärt und in die geschlossene Abteilung der Anstalt Sainte-Anne eingewiesen. Dort setzte sie ihre lange und sehr bewegte >Karriere< in der Psychiatrie fort. Einige Jahre später verübte sie einen weiteren Mordanschlag, diesmal auf eine Pflegerin. 1910 gelang ihr die Flucht. Als die Polizei sie später wieder aufspürte, stellte sich heraus, dass sie als Näherin unter ihrem Mädchennamen Arbeit gefunden hatte. Ihre geistige Verfassung hatte sich mittlerweile so gebessert, dass sie nicht wieder eingewiesen wurde. Als hochbetagte Frau bekam sie erneut paranoide Wahnvorstellungen und es schien sicherer, sie wieder einzusperren. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in Sainte-Anne. Sie starb 1955 im Alter von zweiundneunzig Jahren.
DAS CHAOS DER CHOREAS
Aber auch mit Gilles de la Tourette war nicht alles ganz in Ordnung. Mangelnder Gleichgewichtssinn scheint ihm schon von Jugend an Streiche gespielt zu haben. Den größten Teil seiner Laufbahn verbrachte er aus beruflichen Gründen in psychiatrischen Anstalten, aber in den letzten Jahren seines Lebens war er geistig so verwirrt, dass er selbst aufgenommen werden musste. Georges Albert Edouard Brutus Gilles de la Tourette wurde 1857 in St. Ger-vais-les-Trois-Clochers geboren, einem Dorf im mittleren Westen Frankreichs. In der höheren Schule galt er als schwierig und zu lebhaft, aber er schien auch sehr intelligent und in der Lage, Klassen zu überspringen. Als Sechzehnjähriger begann er sein Medizinstudium an der Universität von Poitiers und ging drei Jahre später nach Paris, wo er sein Examen als Hausarzt machte. Das Kind ist Vater des Mannes, schrieb Wordsworth - der erwachsene
Gilles de la Tourette war kreativ und vielseitig, aber auch schnell abgelenkt und ungeduldig. Er verlor sich leicht in Polemiken und Kontroversen. Sein Leben lang eignete er sich von Natur aus besser für Zwischenbemerkungen als für eine bedächtige Konversation, für Wortgefechte besser als für einen höflichen kollegialen Gedankenaustausch. Seine Stimme, die heiser, hoch und laut war, ging vielen Menschen auf die Nerven. Aber es gelang Gilles de la Tourette - der in eigener Wahrnehmung »so hässlich wie eine Laus« war -, auch enge Freundschaften zu schließen, wie etwa mit dem Arzt und Zeichner Paul Richer, mit dem er die renommierte Zeitschrift Nouvelle Iconographie de la Salpetriere gründete. 4 Auch außerhalb der Neurologie machte sich Gilles de la Tourette einen Namen, unter anderem als Theaterrezensent. 5 1884 stellte ihn Charcot in seiner Abteilung in La Salpetriere ein, wo er zwei Jahre später über eine Untersuchung der Motorik bei Krankheiten des Nervensystems promovierte. 1887 heiratete er seine Kusine Marie Detrois. Im selben Jahr bot Charcot ihm an, sein persönlicher wissenschaftlicher Sekretär zu werden - eine Stellung, die er begierig annahm; fortan zeichnete er viele der klinischen Lehrstunden und Patientendemonstrationen auf, die bei der Ausbildung in La Salpetriere einen so hohen Stellenwert hatten.
Als Forscher und Therapeut beschäftigte sich Gilles de la Tourette mit allem, was ihm in die Hände fiel. In den Achtzigerjahren des neunzehnten
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