Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Grades, in der Familie trat häufig Asthma auf und es wurde heftig gestottert. Mit elf Jahren stellte sich bei O. der erste Tic ein. Er erinnerte sich an den Ursprung: Von klein auf empfand er ein lebhaftes Nachahmungsbedürfnis, und als er eines Tages einen alten Mann Grimassen schneiden sah, übte er so lange, bis er sie genau imitieren konnte. Aber was als absichtliche Bewegungen begann, passierte schon bald von selbst und danach gegen seinen Willen. Die Grimassen verschwanden nicht mehr. Später waren immer mehr Tics hinzugekommen. Er verspürte den Zwang, immer wieder sein Lorgnon anzufassen: abnehmen, festdrücken, verrücken. Er fummelte endlos an seinem Hut herum, nur, um sich von anderen Tics abzulenken, was seinem Hutmacher zum Vorteil gereichte, denn länger als fünf, sechs Wochen hielt das kein Hut aus. Während des Deutsch-Französischen Kriegs hatte er sich zum Militärdienst gemeldet. Eines Tages kam ein neuer Oberst, der die Truppen inspizierte. Als er zu O. kam, gelang es diesem nicht, die vorgeschriebene Haltung anzunehmen: den Kopf unbeweglich, den Blick geradeaus. »Und je länger mich der Oberst musterte, umso mehr schnitt ich ihm Gesichter. Das wäre mir schlecht bekommen, wenn sich nicht mein Hauptmann meiner angenommen und mich für einen tüchtigen Soldaten erklärt hätte, trotz meiner ganz unfreiwilligen Grimassen. Aber der Oberst wollte nichts davon hören, ich kam ins Lazarett und wurde nach vierzehn Tagen, zu meinem größten Leidwesen, wegen >choreartiger Gesichtszuckungen< entlassen.« 25 Die Tics blieben nur aus, wenn er sich konzentrierte: beim Billard, wenn er an der Reihe war, und beim Angeln, wenn ein Fisch angebissen hatte. Er zerbrach viele Gegenstände, weil seine Bewegungen zu hastig und brüsk waren.
Auch auf psychologischer Ebene war es schwierig für O. Er beschrieb sich selbst als ungeduldig und frustriert, nichts ging ihm schnell genug. Wenn er sprach, purzelten die Worte und Ideen übereinander, schreiben ging ihm zu langsam, weshalb er nur diktierte, wobei er sich über seinen Sekretär beklagte, der ihm nicht schnell genug schrieb. War er frustriert, musste er sich beherrschen, um nicht zu schlagen. Er führte einen ständigen Kampf gegen seine eigenen Impulse: »Zwei Menschen wohnen in mir: der eine mit, der andere ohne den Tic. Der erstere ist ein Sohn des zweiten, ein ungeratenes Kind, das seinem Vater große Sorgen macht. Dieser sollte es strafen, aber meist vermag er es nicht und so bleibt er ein Sklave der Launen seines Geschöpfes.« 26 O. empfand sich auch als Opfer einer ganzen Reihe von Zwangshandlungen. In manche Straßen musste er unbedingt einbiegen, in andere nicht. Er litt unter >Arithmomanie<, Zählzwang: Immer, wenn ein Mietfahrzeug vorbeikam, zählte er zwangsmäßig die Ziffern der Nummer auf. Er war Hypochonder und glaubte, an den schlimmsten Krankheiten zu leiden. Manchmal dachte er an Selbstmord. Dann stand er am Wegesrand, wartete, bis ein Fuhrwerk vorbeikam und musste sich beherrschen, um nicht kurz vor der Nase des Pferdes die Straße zu überqueren. Der Gedanke an Selbstmord komme bei Tiqueurs durchaus häufiger vor, schrieben Meige und Feindei, aber zum Glück sei ihr Wille meist zu schwach, um ihn auch wirklich in die Tat umzusetzen.
Echolalie und Koprolalie kamen bei O. nicht vor, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Er zeigte nach Meige und Feindei jedoch eine verdeckte Form von Koprolalie durch den Jargon, den er oft benutzte. Dafür entschuldigte er sich ab und zu, aber wenn diese Worte in ihm aufstiegen, musste er sie auch aussprechen, es war stärker als er selbst. Diese Neigung zur Koprolalie kenne jeder durchaus in gewissem Sinne, befanden die Autoren, gerade das Vulgäre mancher Ausdrücke mache sie so anziehend. Gute Manieren verhinderten manchmal, dass sie ausgesprochen würden. »Aber bei willensschwachen Individuen kommt die Hemmung nicht immer zur rechten Zeit und das unschickliche Wort ist oft schon ausgesprochen, wenn der hemmende Einfluss sich geltend macht.« 27 Mangel an Beherrschung und Willenskraft zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk von Meige und Feindei, aber auch durch den Bericht von O. selbst. Er bezweifelt, dass er genügend Durchsetzungsvermögen hat, um seine Tics zu besiegen -»So bin ich Tic-Kranker und werde es bleiben« und seine Ärzte fügen dem noch hinzu, dass O. in vielerlei Hinsicht ein großes Kind sei, das dem, was in ihm aufsteige, wehrlos gegenüberstehe. Was O. mit allen Tiqueurs
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