Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
»Untersuchung eines Nervenleidens, gekennzeichnet durch unkoordinierte Bewegungen und begleitet von Echolalie und Koprola-lie«. 9 Er enthielt neun Fallbeschreibungen. Die erste handelte von einer Patientin, die er nicht selbst untersucht hatte. Er war ihr noch nicht einmal begegnet, sie war 1884 verstorben.
DIE MARQUISE VON DAMPIERRE
Der ursprüngliche Bericht war bereits sechzig Jahre alt. 10 Sein Verfasser war Jean Marc Itard, Arzt am königlichen Institut für Taubstumme in Paris. 1825 beschrieb er die betrüblichen Symptome der Marquise von Dampierre, damals sechsundzwanzig Jahre alt. Als Siebenjährige hatte sie Tics entwickelt, die immer groteskere Formen angenommen hatten, später begann sie seltsame Schreie auszustoßen, häufig Flüche und Obszönitäten. Diese >Koprolalie< verließ sie nicht mehr: Bis zu ihrem Ableben im Alter von fünfundachtzig Jahren begrüßte sie ihre Gäste noch immer mit einem lauten >Scheiße!< und >Fickschweink Gilles de la Tourette übernahm Itards Beschreibung Wort für Wort. Als junges Mädchen litt die Marquise beim Schreibenlernen unter den unwillkürlichen Bewegungen. Wenn sie Buchstaben abschrieb, rutschte ihr die Hand aus. Strafen machten es nur schlimmer. Als die Störung auch in der Pubertät nicht verschwand, schickte man sie in eine Schweizer Klinik. Nach einem Jahr mit Milchbädern kehrte sie scheinbar genesen zurück. Sie heiratete, und etwa anderthalb Jahre blieben die Tics und Grimassen aus. Danach traten sie ziemlich plötzlich - und heftiger - wieder auf. Itard wirkt in seinem Bericht ein wenig erstaunt, dass der Ehestand keine Erleichterung brachte. Unter Ärzten herrschte die allgemeine Auffassung, dass Probleme von Frauen dazu neigten, sich im ehelichen Umgang zu verflüchtigen. Vielleicht hätte die Marquise Kinder bekommen sollen: »Die Patientin, die nie ein Kind geboren hat, sah sich der vorteilhaften Möglichkeiten beraubt, die ihr die körperlichen und gefühlsmäßigen Veränderungen, die üblicherweise mit einer Schwangerschaft verbunden sind, hätten bringen können.« 11
Das Fluchen und Schimpfen verursachte peinliche Situationen für die Marquise selbst und ihre Gesellschaft. Mitten im Gespräch flogen Schreie und Worte heraus, die »einen beklagenswerten Kontrast zu ihrem Erscheinungsbild und ihren vornehmen Manieren darstellen« 12 . Die Erklärung der Marquise selbst schien auch Itard die glaubwürdigste: »Sie sagt, dass ihre Zunge in diesen Zuckungszuständen sich auf diese unpassenden Äußerungen abzustimmen habe. Je revoltierender diese durch ihre Grobheit erschienen, desto aufgewühlter sei sie in der Angst, sie hervorstoßen zu müssen, und dieser innere Druck sei genau das, wodurch die Äußerungen quasi auf die Zunge geschoben würden, bis sie fast nicht mehr zu meistern seien.« 13
Gilles de la Tourette hatte dies alles aus zweiter Hand und fügte vielleicht deshalb hinzu: »Herr Prof. Charcot hat diese Kranke mehrfach wiedergesehen, die bis in das vorgerückte Alter ihre motorischen Koordinationsstörungen beibehalten hat und selbst an öffentlichen Orten gegen ihren Willen obszöne Worte aussprach, so dass Herr Charcot davon auch Zeuge geworden ist.« 14 Die Formulierung bewegt sich an der Grenze zur Irreführung. Charcot hatte sie ein einziges Mal gesehen - und nicht im medizinischen Sinn. Auf dem Weg zum Salon hatte er auf der Treppe plötzlich eine ältere Dame »Sacre nom de Dieu!« rufen hören und dann die Marquise erkannt. Für Gilles de la Tourette reichte dies aus: Charcot hatte seine Diagnose mit einer retrospektiven Bestätigung< abgesegnet. 15
Die Ironie des Falles, dieses Falles, ist, dass die Marquise als einzige aller Patienten, die Gilles de la Tourette anführte, das vollständige Spektrum der Symptome zeigte, die heutzutage zur Diagnose des Tourette-Syndroms führt. Die acht Patienten, die er persönlich beobachtete, zeigten jeweils nur einen Teil der Symptome. Da war der zwanzigjährige S. J., der Grimassen schnitt und zwanghaft Worte wiederholte. Wenn Charcots Kommen angekündigt wurde, schrie er »Voilä Monsieur Charcot. Monsieur Charcot. Monsieur Charcot!«, während sein Körper die merkwürdigsten Verrenkungen machte. 16 Es gelang ihm nicht, Schimpfworte zu unterdrücken, auch nicht im Beisein seiner Mutter, die er sehr mochte. Sie hatten schon einmal ein Restaurant verlassen müssen, weil die Gäste an seinen obszönen Ausrufen Anstoß nahmen. Des Weiteren gab es den fünfzehnjährigen G. D., der sich
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