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Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co

Titel: Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Douwe Draaisma
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Koprolalie, die zu sozialer Isolation führen können und an sich schon viele Patienten großem Stress aussetzen. 35 Viele sind überlebhaft oder haben Zwangsstörungen. Die Krankheit ist bleibend, hat aber einen wechselhaften Verlauf, wobei Müdigkeit oder Stress die Symptome verstärken können. Zwillingsstudien verweisen auf einen genetischen Anteil an der Anfälligkeit für das Tourette-Syndrom. Genau wie beim Asperger-Syndrom sind Männer überrepräsentiert, in einem Verhältnis von ungefähr vier zu eins. Auf einem EEG oder auf Hirnscans sind fast nie Abweichungen zu erkennen. In der Zeit von Gilles de la Tourette galt das Tourette-Syndrom als ausgesprochen seltene Störung, heutzutage reichen die Schätzungen von dreißig bis zu fünfzig Fällen pro tausend Kinder im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren. Außerdem wird die Diagnose immer häufiger gestellt. Dass sich dieser relativ hohe Prozentsatz nicht im Straßenbild wiederfindet, liegt zum Teil an den dämpfenden Medikamenten, zum anderen daran, dass sich Tourette-Patienten wenig in die Öffentlichkeit begeben.
    Aus allen Spezialgebieten innerhalb der Neurologie und Psychiatrie gab es Vorschläge zur Erklärung der Entstehung des Tou-rette-Syndroms. Tourette sollte die Folge einer früher durchlebten, aber häufig unbemerkt gebliebenen bakteriellen oder viralen Infektion sein. Tourette sollte durch eine Autoimmunreaktion verursacht werden, wobei das eigene Abwehrsystem neurologischen Schaden verursacht. Tourette sollte entstanden sein, weil man von Natur aus linkshändige Kinder zur Rechtshändigkeit gezwungen habe. Freud selber zweifelte nicht daran, dass das Tou-rette-Syndrom eine organische Ursache habe, aber sein ungarischer Schüler Sandor Ferenczi entwarf eine psychoanalytische Erklärung, die darauf hinauslief, dass es sich bei den ruckartigen Bewegungen um einen symbolischen Ausdruck der Masturbation handelte, die durch die Verdrängung erotischer Impulse entstanden waren. 36 Ein kurioses Detail ist, dass sich Ferenczi auf O.s Krankengeschichte berief - persönlich hatte er keinen einzigen Patienten beobachten können. Eine bessere Garantie für seine Unparteilichkeit, fand er, sei kaum denkbar.
    Dass es Tourette-Patienten oft gelingt - unter hohem Kraftaufwand -, ihre Tics und Schreie eine Zeit lang zu unterdrücken, nährte den Gedanken, die Störung sei nicht neurologischer, sondern psychiatrischer Art. Auch die Tatsache, dass das, was der Patient ruft, oft ausgesprochen beleidigend oder rassistisch ist - und daher ein deutliches Bewusstsein des sozialen Kontextes unterstellt -, trug zu einer Interpretation bei, welche die Entstehung des Syndroms in anderen als organischen Faktoren suchte. Nach der Monographie von Meige und Feindei blieb die Krankheit fast ein Vierteljahrhundert außerhalb des Fachgebiets der Neurologie.
    Damit verschwand Gilles de la Tourette auch als Eponym aus der medizinischen Literatur. Die Symptome, die zusammen das Syndrom ausgemacht hatten, landeten bei Diagnosen wie psychogene Chorea<, >Zwangsneurose<, >Gewohnheitsspasmen<, >Hyper-kinäsie< oder sogar unter der Kategorie der >Chorea von Syden-ham<, die Gilles de la Tourette 1885 noch so sorgfältig von den >tics convulsifs< unterschieden hatte, ln den Fallbeschreibungen aus dieser Zeit - Kushner präsentiert einige davon - steckt viel Elend. Therapeuten erzählten Eltern, ihr Kind habe Tics, weil es den Impuls zu masturbieren unterdrücke oder, im Gegenteil, weil es übermäßig masturbiere. Mütter bekamen zu hören, dass die Tics entstünden, weil sie ihr Kind zu behütet erzogen hätten. Sie hätten die übergroße Lebhaftigkeit des Kindes viel zu lange gestattet und das Kind während der Kleinkindzeit einfach rennen lassen, und jetzt sei es zu spät, um ihnen noch Beherrschung beizubringen. »Die Kombination aus liebenden Eltern und einem verwöhnten Kind«, erklärte der britische Neurologe Kinnier Wilson seinen Kollegen in einem Vortrag, »geht der Entwicklung eines Tics beim Kind zu oft voraus, um noch Zufall zu sein. Manchmal reicht schon ein einziger Blick auf die Mutter oder den Vater des jugendlichen Patienten für eine Erklärung.« 37 Waren Eltern besorgt und beunruhigt, so war dies nicht eine Folge der Krankheit ihres Kindes, sondern vielleicht gerade die Ursache. Sie standen unter ständigem Verdacht: als Eltern, weil sie ihre nervöse, neurotische Art ihrer Nachkommenschaft weitergegeben hatten, als Erzieher, weil jedes Bellen, jeder Tic, jeder obszöne

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