Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
dem die Patienten aus der Zeit vor der Entwicklung der dämpfenden Medikation ausgeliefert waren. In Der Mann, der seine Trau mit einem Hut verwechselte beschreibt Oliver Sacks den Fall des vierundzwanzigjährigen Ray. 44 Er litt an heftigen Tics, die alle paar Sekunden aufeinander folgten. Nach der Realschule war er schon aus einem Dutzend Stellen entlassen worden. Er hatte ein Ventil in der Musik gefunden: Am Wochenende trat er als Jazzdrummer auf. Der Vorteil seines Leidens, erzählte er
Sacks, sei, dass es ihn zu wilden, launischen Improvisationen beflügle. Beim Tischtennis waren seine unerwarteten, >frivolen Schläge<, wie er sie selbst nannte, gefürchtet. Sacks schlug vor, ihn mit Haldol zu behandeln und injizierte ihm zunächst eine ausgesprochen geringe Dosis. Es wirkte unmittelbar: Ein paar Stunden lang blieben die Tics aus. Sacks verschrieb ihm ein Viertel Milligramm dreimal täglich. Eine Woche später kam Ray mit einem blauen Auge und einer gebrochenen Nase zu ihm. Es stellte sich heraus, dass er auch die Angewohnheit hatte, blitzschnell durch Drehtüren zu schießen. Durch die Medikation hatte er das falsch >getimt<. Die Tics waren nicht ausgeblieben, sondern wurden nur viel träger ausgeführt, und manchmal >erstarrte< er mitten in der Bewegung. Er empfand sich als schlapp, apathisch und langweilig. Auch sein Schlagzeugspiel hatte darunter zu leiden: Er spielte jetzt mittelmäßig und ohne die schnelle Begeisterung von früher. Ray beschloss, in Zukunft während der Woche Haldol zu nehmen und am Wochenende darauf zu verzichten. Seine Vorbehalte sind verständlich: Haloperidol zeigt manchmal unangenehme Nebenwirkungen, wie parkinsonartige Steifheit, Depression, Apathie, und in manchen Fällen eine Neigung zum Selbstmord. Bei einer Minderheit von Tourette-Patienten hat das Mittel sogar überhaupt keinen Effekt und es bleiben nur die Nebenwirkungen.
Oliver Sacks hat in späteren Arbeiten noch andere Tourette-Patienten porträtiert, wie den Chirurgen Carl Bennett - eine Bekanntschaft, die dazu führte, dass Sacks mit drei Chirurgen, drei Internisten, zwei Neurologen und einem Psychiater mit Tourette-Syndrom in Kontakt kam. 45 Seine Patientenbeschreibungen von Ray und Bennett haben sicherlich das ein oder andere mit den »Bekenntnissen von O.« aus dem Jahre 1902 gemein. Sie wurden von einem Arzt geschrieben, der von seinen klinischen Beobachtungen berichtet und das Verhalten des Patienten auf der Grundlage der medizinischen Erkenntnisse seiner Zeit interpretiert. Sacks, Meige und Feindei verweben ihre Beobachtungen mit Darstellungen von dem Ursprung der Störung, dem Verlauf und den therapeutischen Möglichkeiten. In ihren Texten lassen sie auch die
Patienten selbst zu Wort kommen, die dem Leser von der Innenansicht der Krankheit erzählen, darüber, wie es sich anfühlt, wenn die Spannung sich aufbaut, über die Entladung und die Erleichterung nach dem Tic, dem Schrei oder dem Bellen. Die Erzählperspektiven wechseln zwischen der dritten und der ersten Person, und gemeinsam erzählen Arzt und Patient davon, was es bedeutet, am Tourette-Syndrom zu leiden. Eine weitere Übereinstimmung liegt auch darin, dass Ray, Carl Bennett und O. sich alle drei für ihre Störung verantwortlich fühlen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. O. glaubt, sein Verhalten sei die Folge eines schwachen Willens und der mangelhaften Beherrschung seiner Impulse. Wenn er seinen Willen stärken und trainieren würde, könnte er seine Tics unterdrücken. Ray und Bennett wissen, dass ihre Tics durch eine organische Störung verursacht werden, aber auch, dass die Verfügbarkeit dämpfender Medikation ihnen die Möglichkeit gibt, die Tics zu reduzieren. Ob sie von den Medikamenten Gebrauch machen, bleibt ihnen überlassen. Dass sich das Tourette-Syndrom zwischen 1902 und heute von einem psychischen Defekt zu einem organischen Leiden wandelte, hat das mit Schuld und Selbstvorwürfen verbundene Bewusstsein der Verantwortlichkeit, unter der O. so spürbar litt, eliminiert, hat aber einem neuen Typ von Verantwortung Platz gemacht.
Und ansonsten: ein himmelweiter Unterschied zwischen den Untertexten in Sacks Patientenbeschreibung und der seiner Kollegen von Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Sacks sucht nicht nach Asthma in der Familie, nach stotternden Cousins oder bizarren Tanten. Jede Suggestion einer >Degeneration< ist verdampft. Dasselbe gilt für den Verdacht eines schwachen Willens<. Dieser Gedanke wurde in einem vor kurzem
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