Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
durchgeführten Experiment übrigens hinlänglich widerlegt: Bei einer Aufgabe, in der es darauf ankam, reflexartige, impulsive Reaktionen zu unterdrücken, stellte sich heraus, dass dies Kindern mit Tourette - entgegen der theoretischen Erwartung - besser gelingt als Kindern ohne Tourette. 46 Die neue Hypothese lautet, dass sie durch die Notwendigkeit, ihre Reaktionen zu beherrschen, stärkere Kontrollmechanis-men entwickelt haben als ihre Altersgenossen. Aber der wichtigste
Unterschied ist, dass O. in den Augen seiner Ärzte eine Ansammlung von Behinderungen war, ein Kompendium aus Störungen. Für Meige und Feindei war er ein erfolgreicher Geschäftsmann und versierter Sportler trotz seiner Krankheit. Für Sacks ist die Leidenschaft, die Launenhaftigkeit und das Lebenstempo eines Menschen wie Ray Teil der Störung, dank des Tourette-Syndroms ist er ein brillanter Schlagzeug- und Tischtennisspieler.
Als Les tics et leur traitement 1902 erschien und das Tourette-Syndrom aus der Neurologie führen sowie auch das Eponym selbst lange Zeit dem Auge entziehen sollte, war Gilles de la Tourette selbst schon nicht mehr in der Verfassung, darauf zu reagieren. Die Artikel, die er um die Jahrhundertwende schrieb, hatten sonderbare Titel wie »Hysterische Manifestationen nach einem Fall aus 17 Meter Höhe«, »Ein Fall von Hirnblutung mit einem hysterischen Ursprung« oder sogar »Hysterische Tetanusart bei schwangeren Frauen«. 47 1899 schrieb er noch einen Artikel, in dem er seinen früheren Standpunkt widerrief, die >maladie des tics< habe einen progressiven Verlauf und ende mit schweren Geistesstörungen. 48 Wenig später sollte er selbst von einer Geistesstörung heimgesucht werden, der Spätfolge einer Syphilisinfektion. Im Laufe des Jahres 1900 nahm das Verhalten von Gilles de la Tourette so bizarre Formen an, dass es sich kaum noch von dem seiner Patienten unterschied. Er war nicht mehr tragbar in seiner Funktion. Im Januar 1901 wurde er auf unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Um ihn außer der Sichtweite der Boulevardpresse zu halten, reisten seine Frau und seine Kinder mit Gilles de la Tourette in die Schweiz. Jean-Baptiste Charcot junior, selbst auch Arzt, begleitete ihn. Nach der Ankunft in einem Hotel in Luzern verhielt sich Gilles de la Tourette weiterhin verwirrt, er stopfte die Menüs in sich hinein und bunkerte für 1500 Francs Spazierstöcke. Die Situation wurde schnell unhaltbar. Während einer heftigen manischen Phase täuschte Charcot ihm vor, man wünsche seinen Beistand für einen berühmten Patienten in Lausanne. Am 28. Mai 1901 betrat Gilles de la Tourette die Cery-Klinik auf dem Weg zu seiner Beratung. Es folgte eine Zwangseinweisung in die ge-
schlossene Abteilung. Sein Zustand verschlechterte sich allmählich und schließlich versank er in einer Psychose. Georges Gilles de la Tourette starb 1904 im Alter von sechsundvierzig Jahren.
DAS SCHLEIFENLABYRINTH DIE ALZHEIMER-KRANKHEIT
Auf Fotos aus dem Jahre 1902 wirkt Auguste Deter älter als ihre 52 Jahre. Ihr Mann hat sie in die Städtische Irrenanstalt von Frankfurt am Main gebracht. Zu Hause kann er nicht mehr für sie sorgen. Auguste ist verwirrt und unruhig, sie hat die paranoide Idee, ihr Mann habe sich mit einer Nachbarin eingelassen, und manchmal erkennt sie ihren eigenen Gatten nicht mehr.
Auguste Deter (52), die »erste Alzheimer-Patientin«.
Ihr Hausarzt schreibt in der Überweisung, ihr Gedächtnis sei ernsthaft gestört und sie leide an Schlaflosigkeit. Als Diagnose schlägt er >Gehirn-lähmung< vor. Am 26. November 1901, dem Tag nach ihrer Aufnahme, führt Alois Alzheimer ein Gespräch mit seiner neuen Patientin. 1 »Sitzt im Bett mit einem ratlosen Ausdruck«, notiert er als ersten Satz in der Krankenakte. Er fragt, wie sie heiße. »Auguste.« »Familienname?«
»Auguste.« »Sind Sie verheiratet?« »Mit Auguste.« Als Alzheimer fragt, wie lange sie schon hier sei, antwortet sie: »Drei Wochen.« Er zeigt ihr ein paar Gegenstände, einen Bleistift, einen Füller, eine
Die Alzheimer-Krankheit 193
Stahlfeder, Schlüssel, eine Zigarre - sie kann die Gegenstände benennen, aber wenn Alzheimer später danach fragt, hat sie alles wieder vergessen. Beim Mittagessen - Blumenkohl mit Schweinefleisch - fragt er, was sie esse. »Spinat.« Als er sie bittet, >Frau Auguste Deter< aufzuschreiben, weiß sie nach >Frau< nicht mehr, was sie schreiben soll. Zwei Tage später notiert Alzheimer in ihrer Krankenakte: »anhaltend ratlos ängstlich«,
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