Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
Schrei ihr Versagen unterstrich.
UND DANN KAM HALOPERIDOL
1961 publizierte der französische Psychiater Jean Seignot den Bericht über einen Tourette-Patienten, den er mit dem experimentellen Mittel Haloperidol behandelt hatte (als Medikament später unter dem Namen Haldol bekannt). 38 Der Mann hatte die unbe-zwingliche Neigung, seinen Kopf gegen die scharfen Ecken von Türen und Möbeln zu schlagen. Eine Tagesdosis von 0,6 Milligramm hatte die Tics auf höchstens ein paar Mal pro Tag reduziert, die Koprolalie war vollkommen verschwunden. Dieses Ergebnis und die Hunderte von Studien, die ihm folgten, rückten die Möglichkeit eines organischen Defekts wieder in den Blickpunkt des
Interesses. Heute nimmt man an, dass beim Tourette-Syndrom die basalen Ganglien betroffen sind, eine Ansammlung von Regelschleifen tief im Gehirn, die bei der Steuerung von Bewegungen beteiligt sind. Diese Regelschleifen können durch eine Uberempfindlichkeit auf den Neurotransmitter Dopamin in Unordnung geraten. Haloperidol bindet sich an die Dopaminrezeptoren und hemmt so die Reizübertragung. 39 Des Öfteren wurde auch schon suggeriert, beim Tourette-Syndrom könne es sich um das Gegenteil von Parkinson handeln: Werden Parkinson-Patienten aufgrund von Dopaminmangel träge und steif, wird ein Tourette-Patient aufgrund seiner Überempfindlichkeit für Dopamin überlebhaft, mit einer abrupten, unfreiwilligen Motorik. Der Parkinson-Patient will sich bewegen, kann es aber nicht, der Tourette-Patient will sich nicht bewegen und tut es doch. Die Medikamente, die heutzutage verschrieben werden, setzen bei der Herstellung, der Aktivität oder dem Abbau von Neurotransmittern an. Sie können die Symptome in vielen Fällen dämpfen, ohne die Störung zu beseitigen. Wie die Überempfindlichkeit entsteht, ist nicht bekannt.
Der Wechsel von der Psychiatrie zu Neurologie und von der Couch in die Apotheke verlief nicht widerstandslos. Noch gut zehn Jahre lang berichteten Autoren in Effektivitätsstudien zu Haloperidol, dass dieses Medikament die Symptome zwar unterdrücke, nicht jedoch die Ursache beseitige. Psychotherapie blieb die beste Lösung, Haloperidol konnte höchstens dabei helfen, den Patienten so weit zu beruhigen, dass er für die Therapie zugänglich wurde. Artikel, die für Haloperidol anstelle von Psychoanalyse plädierten, wies die Fachpresse zurück. Kennzeichnend für den langsamen Wechsel sind die halbherzigen Erklärungen, wie etwa, dass Haloperidol die Aggressivität hemme, auch die Aggression des Kindes gegenüber Vater oder Mutter. Dadurch brauche es weniger ambivalente Gefühle zu verdrängen und die intrapsychische Anspannung, die für die Tics verantwortlich sei, steige auch nicht mehr so an. Solche Erklärungen, schreibt Kushner, spiegeln vor allem die damaligen Machtverhältnisse in der Psychiatrie wider. Die Wende zu einer pharmakologischen Behandlung des Tourette-Syndroms war daher auch einer grassroofs-Bewegung von Patienten und ihren Familie zu verdanken, nicht der Autorität von Tatsachen und Ergebnissen aus Experimenten mit Haloperidol.
In den Siebzigerjahren erschienen in ganz Amerika nach und nach in Zeitungen und Zeitschriften Berichte über Tourette-Patienten. Ihr Inhalt war auffallend gleichförmig. Es ging immer wieder um Kinder, die Nerventics im Gesicht bekamen und danach anfingen, seltsame, unwillkürliche Bewegungen zu machen. Die besorgten Eltern waren zum Arzt gegangen, aber der hatte nichts ausrichten können. Auch Spezialisten - Kinderärzte, Psychiater, Neurologen - wussten nicht, was los war. Oft hatten die Eltern einen langen, traurigen und finanziell erschöpfenden Marsch durch die Institutionen der Gesundheitsfürsorge hinter sich. In dieser verzweifelten Situation - auch in der Schule lief es nun oft schlecht mit den Kindern, die Ehe der Eltern stand unter Druck -hatten Vater oder Mutter zufällig etwas über einen Arzt in New York gelesen. Das konnte eine kurze Notiz sein in einer Zeitschrift, die beim Hausarzt im Wartezimmer herumlag, in einem Hausfrauenblättchen wie Good Housekeeping oder in Reader’s Digest, die Botschaft lautete in jedem Fall, dass er Kinder mit genau den gleichen Beschwerden mit einem neuen Medikament behandelte und damit große Erfolge erzielte. Das Medikament war Haldol, der Arzt Arthur K. Shapiro, die Quelle all dieser Berichte die Tourette Syndrome Association. 40
Shapiro, Psychiater am New York Hospital, hatte 1965 eine vierundzwanzigjährige Frau in Behandlung
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