Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
die Friedensaufgaben, welche ihm die Zukunft stellen wird, herantreten und wohl auch mancher Erscheinungen Herr werden können, die eine lange Friedenszeit aufwuchern ließ und die von einzelnen Besorgten auch als Beweise einer psychischen Entartung unseres Volkes angesehen wurden.« 32 Bis dahin hatte Alzheimer Nerven vor allem durch das Mikroskop beobachtet. Befreit von den engen Grenzen des Objektivs, kommt er zu Betrachtungen, die den Leser jene in diesen Jahren in der Psychiatrie generell herrschende Gedankenwelt erahnen lassen, und es ist kaum verwunderlich, dass auch Alzheimer, selbst Alzheimer, ihr angehörte. So kommt er in demselben Vortrag auch auf ein Leiden zu sprechen, das er >Rentenneurose< nennt. Es handelt sich um Störungen, »bei welchen sich an eine leichte Verletzung, z.B. einen Streifschuss, einen Fall vom Pferde oder Wagen, eine Menge subjektiver Klagen anschließen, für die die Untersuchung des Nervensystems keine Grundlage finden lässt und die überhaupt zur Geringfügigkeit der Verletzung in gar keinem Verhältnis stehen. Wir sehen diese Störung auch im Frieden gar nicht selten bei unseren Arbeitern, die im Berufe verunglückt sind oder bei Personen, die Eisenbahnunfälle durchgemacht haben, und bezeichnen sie als traumatische Hysterie oder auch als Rentenneurose, weil sich sowohl mit Recht die Ansicht vertreten lässt, dass die Aussicht auf eine Rente der psychische Faktor ist, der die Symptome unterhält.« 33 Diese frühe Anspielung auf den heute so genannten Krankheitsgewinn läuft wenig später auf eine vertraute, aber im Deutschland des Jahres 1915 Unheil verkündende Charakteristik von Menschen hinaus, die anscheinend eine speziell angeborene Empfindsamkeit für diese Störung haben, vor allem die »sogenannten Degenerierten, Psychopathen oder Minderwertigen. Oft handelt es sich um Kinder von Geisteskranken, Epileptikern, Verbrechern oder Trinkern.« 34 In anderen Artikeln zeigte sich Alzheimer reservierter gegenüber dem Begriff Degeneration, das »sogenannten« stand nicht umsonst da, aber mit seiner Auflistung der bekannten Elemente in der Kategorie der Degeneration steht er in einer langen Tradition, in der er auch nicht der Letzte sein sollte.
Der Vortrag über »Krieg und Nerven« ist der Abschluss von Alzheimers wissenschaftlichem Werk. Im Dezember 1915 - Hans hat Weihnachtsurlaub und ist nach Breslau gekommen - verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand schnell. Als noch eine Herzinnenhautentzündung dazukommt, erliegt Alzheimer seiner Krankheit. Er ist 51 Jahre alt. Nissl wohnt dem Begräbnis bei: »So still und einfach sein Leben dahingeflossen ist, so prunklos war sein Leichenbegängnis. Er hatte es sich verbeten, dass an seinem Grabe gesprochen würde. Am 23. Dezember begleiteten wir den unvergesslichen Freund zur letzten Ruhestätte. Er wurde nach seinem eigenen Wunsche auf dem Frankfurter Friedhof an der Seite seiner ihm viele Jahre vorangegangenen Gattin bestattet, mit der es ihm nur wenige Jahre beschieden war, in glücklichster Ehe vereint zu sein.« 35
DIE ALZHEIMER-KRANKHEITEN
Nach der Lektüre des dritten oder vierten Nachrufs fällt etwas Merkwürdiges auf. Wo ist die Alzheimer-Krankheit geblieben? In den meisten Nekrologen werden seine Artikel über Auguste und Feigl gar nicht erwähnt, sogar der treue Nissl erwähnt das Eponym in seinem Nachruf nicht. Im Rückblick hat sich im Gedenken an Alzheimer eine wundersame Umkehrung eingestellt. Zu seiner Zeit wurde er vor allem als Spezialist auf dem Gebiet der Folgen von Syphilisinfektionen verehrt. Dieses Wissen war lebenswichtig in psychiatrischen Anstalten, die von Patienten mit dem Krankheitsbild der progressiven Paralyse überschwemmt wurden. Die Alzheimer-Krankheit dagegen trat zu einer Zeit, in der höchstens fünf von hundert Menschen das fünfundsechzigste Lebensjahr erreichten, nur selten auf. Auguste, Johann Feigl, die drei Patienten von Perusini - sie verloren sich in der Masse der Paralysepatienten. Dass aus Alzheimers großem neurologischem Werk gerade die beiden Artikel über >präsenile Demenz< herausgehoben wurden, spiegelt auf jeden Fall auch die schnell gewachsene Zahl der Alzheimer-Patienten in unserer Zeit wider. Alzheimer ist
Fotomikrographie eines Schnitts aus dem Gehirn von Johann Feigl.
als Syphilisexperte gestorben und als Entdecker der Alzheimer-Krankheit wiederauferstanden.
Aber es gab vielleicht noch einen anderen Grund, weshalb man 1915 seiner nicht als des Mannes
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