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Geisterbahn

Geisterbahn

Titel: Geisterbahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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ein paar Stunden der Erleichterung von jenen Sorgen und Ängsten, die sie seit fünfundzwanzig Jahren bei lebendigem Leib auffraßen.
    Jetzt stellte sie die Flasche Wodka und die Tüte Orangensaft auf den Küchentisch, zog einen Stuhl hervor und setzte sich. Wenn ihr Glas leer war, mußte sie nicht mehr aufstehen, um sich das nächste zu holen; sie mußte sich nur noch aufraffen, wenn ihr Eis geschmolzen war.
    Eine Weile saß sie da und trank schweigend, doch als sie dann den Stuhl gegenüber dem ihren sah, durchzuckte sie ein Blitz der Erinnerung an Amy, die an diesem Morgen dort gesessen, aufgeschaut und gesagt hatte: »Mir ist morgens schlecht, meine Periode ist ausgeblieben, ich bin wirklich schwanger, ich weiß es genau ... « Ellen erinnerte sich - viel zu lebhaft - daran, wie sie das Mädchen geschlagen, brutal geschüttelt und verflucht hatte. Wenn sie die Augen schloß, konnte sie sehen, wie sie ihre Tochter auf den Boden zog, wie eine Verrückte herumschrie, lauthals betete ...
    Sie erschauderte.
    Mein Gott, dachte sie elendig, plötzlich von einer schmerzhaft scharfen Einsicht durchdrungen, ich bin wie meine Mutter! Ich bin genau wie Gina. Ich habe meinen Mann so eingeschüchtert, daß er sich so unterordnet wie einst Joseph. Ich bin so streng zu meinen Kindern und so sehr mit der Religion beschäftigt, daß ich eine Mauer zwischen mir und meiner Familie errichtet habe - genau wie früher meine Mutter.
    Ellen fühlte sich benommen, aber nicht nur vom Wodka.
    Die Muster der Geschichte, die Familienkreise, die von sich wiederholenden Ereignissen gezogen wurden, erschreckten und verwirrten sie.
    Sie schlug die Hände vors Gesicht, beschämt von dem neuen Licht, in dem sie sich plötzlich sah. Ihre Hände waren kalt.
    Die Küchenuhr klang wie eine tickende Bombe.
    Ich bin genau wie Gina.
    Ellen nahm ihren Drink und trank einen großen Schluck. Das Glas schepperte gegen ihre Zähne.
    Genau wie Gina.
    Sie schüttelte heftig den Kopf, als sei sie entschlossen, diesen unwillkommenen Gedanken abzuschütteln. Sie war nicht so streng, abweisend und furchteinflößend, wie ihre Mutter es gewesen war. Das war sie nicht. Und selbst wenn sie es sein sollte, konnte sie sich im Augenblick nicht damit befassen. Amys Schwangerschaft bereitete ihr schon mehr als genug Sorgen. Sie konnte nur mit einem Problem gleichzeitig fertig werden. Wenn im Leib des Mädchens ein schreckliches Geschöpf heranwuchs, muß te man es so schnell wie möglich loswerden. Vielleicht würde Ellen dann, nach der Abtreibung, über ihr Leben nachdenken können und herausfinden, was sie von der Frau hielt, zu der sie geworden war; vielleicht fand sie dann Zeit, um darüber nachzudenken, was sie ihrer Familie angetan hatte. Aber nicht jetzt. Lieber Gott, bitte, nicht jetzt.
    Sie ergriff das Glas und kippte den Rest ihres Drinks, als wäre es nur Wasser. Mit zitternder Hand füllte sie etwas Orangensaft und viel mehr Wodka nach.
    An den meisten Abenden war Ellen erst so gegen elf oder zwölf Uhr betrunken, doch heute war sie schon um halb zehn völlig berauscht. Sie nahm ihre Umgebung nur noch unscharf wahr, und ihre Zunge war schwer. Ihr Geist trieb dumpf und verträumt dahin. Sie hatte den angenehmen, geistlosen Zustand der Gnade erreicht, den sie so sehr begehrte.
    Als sie zur Küchenuhr schaute und sah, daß es halb zehn war, fiel ihr ein, daß Joey jetzt zu Bett mußte. Sie entschloß sich, nach oben zu gehen, ihn seine Gebete sprechen zu lassen und ins Bett zu stecken, ihm einen Gutenachtkuß
    zu geben und eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Sie hatte ihrem Sohn schon lange, sehr lange, keine Geschichte mehr erzählt. Das würde ihm bestimmt gefallen. Er war noch nicht zu alt für Gutenachtgeschichten, oder? Er war noch immer ein Baby. Ein kleiner Engel. Er hatte ein so süßes, engelhaftes Babygesicht. Manchmal liebte sie ihn so sehr, daß sie glaubte, sie würde platzen. Wie jetzt. Sie strotzte vor Liebe für den kleinen Joey. Sie wollte sein süßes Gesicht küssen. Sie wollte sich auf seine Bettkante setzen und ihm eine Geschichte von Elfen und Prinzessinnen erzählen. Das wäre schön, so schön, einfach auf der Bettkante zu sitzen, während er zu ihr hochlächelte.
    Ellen trank das Glas aus und erhob sich. Sie stand zu schnell auf, und der Raum drehte sich um sie, und sie hielt sich an der Tischkante fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
    Als sie durch das Wohnzimmer ging, prallte sie gegen einen Beistelltisch und stieß eine

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